Erste Ergebnisse zur historischen Aufarbeitung der Missbrauchsfälle im Bistum Münster wurden jetzt vorgestellt. Foto: pixabay
02.12.2020

Missbrauchsstudie zeigt Führungsversagen auf

Seit etwa einem Jahr arbeiten Wissenschaftler der Universität Münster an ihrer Studie zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster. Schon jetzt ist klar: Es gibt mindestens 300 Opfer und 200 Beschuldigte.

Es könnten allerdings noch mehr Fälle bekannt werden. „Die Zahl kann sich verändern. Es gibt zudem eine hohe Dunkelziffer“, sagte einer der Leiter der Studie, der Historiker Professor Thomas Großbölting, bei der Vorstellung der ersten Zwischenergebnisse. Insgesamt untersuchen fünf Wissenschaftler, vier Historiker und eine Soziologin, Umfang und Qualität sexualisierter Gewalt durch Priester und Diakone des Bistums Münster zwischen 1945 und der Gegenwart. Bisher haben sie hunderte Akten gesichtet und mehr als 70 Interviews geführt.

In einer zufällig ausgewählten Stichprobe von 49 Beschuldigten gab es 82 Betroffene. Beim ersten Übergriff durch einen Geistlichen waren die Opfer im Durchschnitt elf Jahre alt. Zu etwa 90 Prozent handelte es sich in der Stichprobe um männliche Opfer. Die Bandbreite der Übergriffe war groß. Sie erstreckte sich von einem einmaligen Vorfall bis zu einem Zeitraum von mehr als zehn Jahren, erklärten die Forscher auf einer Online-Pressekonferenz. Und sie reichten von anzüglichen Komplimenten und Kommentaren bis hin zu schwerem sexuellen Missbrauch über mehrere Jahre.

„Massives Führungs- und Kontrollversagen“

Ein zentrales Ergebnis der bisherigen Forschung ist: Der Umgang mit den beschuldigten Priestern zeige ein „massives Führungs- und Kontrollversagen“ der jeweiligen Bistumsleitung. Dieses sei keineswegs auf Einzelfälle begrenzt, sondern sei über Jahrzehnte zu beobachten, erklärte Großbölting. Denn zahlreiche Taten in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren seien auf Intensiv- und Langzeittäter zurückzuführen, die Minderjährige bis zu 25 Jahre lang missbrauchten.

Die Forscher sind der Meinung, dass durch konsequentere Verfolgung der Taten zahlreiche Fälle hätten verhindert werden können. Doch, sofern die Kirchenleitung von den Fällen wusste, schwieg sie meist, so die Wissenschaftler. Zum Teil hätten die Verantwortlichen auch auf ein kirchenrechtliches Verfahren oder die Suspendierung des Täters verzichtet. Damit sei teilweise auch kircheneigenes Regelwerk verletzt worden.

Die Täter wurden aus der Gemeinde genommen, sie kamen übergangsweise in Therapie und wurden nach einer gewissen Karenzzeit wieder in der Seelsorge eingesetzt. Als Motivation für diese Vorgehensweise gaben die Forscher die Vermeidung von Skandalen und den Schutz der Institution Kirche an. Eine Rolle spielte es zudem, dass die Bistumsleitung den „Mitbruder“ in seiner priesterlichen Existenz nicht zu gefährden wollte.

Initiative zur Studie kam vom Bistum

Die Studie soll bis zum Frühjahr 2022 abgeschlossen sein. Sie will Fragen dazu beantworten, wie Strukturen, Amtsverständnis, Sexualmoral und intransparente Leitungsstrukturen im Bistum Münster jahrzehntelangen sexuellen Missbrauch ermöglicht haben könnten. Am Ende sollen auch die Namen der verantwortlichen Bischöfe und Personalchefs genannt werden.

Das Projekt, das die Jahre 1945 bis 2018 umfasst, war am 1. Oktober 2019 gestartet. Die Initiative für die auf zweieinhalb Jahre angelegte Studie sei vom Bistum Münster ausgegangen, das dafür rund 1,3 Millionen Euro zur Verfügung stellt, teilt die Universität Münster mit. Die Forscher betonen, dass sie die „volle und vorbehaltlose Unterstützung des Bistums“ haben. Sie hätten ungehinderten Zugang zu allen Akten, zu laufenden Untersuchungen und zu den Beständen des Bistumsarchivs. Selbst das bischöfliche Geheimarchiv stehe ihnen offen.

jüb/wsp

Die Reaktion des Interventionsbeauftragten des Bistums Münster zu den Zwischenergebnisse lesen Sie hier:
„Das Handeln von Verantwortungsträgern macht fassungslos“ 

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