Der Paulus-Dom in Münster. Foto: Bistum Münster
13.06.2022

Flächendeckender Missbrauch

Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs im Bistum Münster ist deutlich größer als bisher angenommen. Das zeigen die Ergebnisse einer unabhängigen Studie von fünf Wissenschaftlern der Universität Münster.

Der Studie zufolge gab es zwischen 1945 und 2020 mindestens 610 minderjährige Opfer. Rund 200 Kleriker konnten als Täter nachgewiesen werden. Das sei aber nur das „Hellfeld“, das durch die Akten belegt werden könne, so die an der Studie beteiligte Sozialanthropologin Natalie Powroznik: „Wir gehen davon aus, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist. Daher schätzen wir, dass 5000 bis 6000 Minderjährige in diesem Zeitraum von Amtsträgern der Kirche im Bistum Münster sexuell missbraucht wurden.“ Die meisten Opfer waren zwischen 10 und 14 Jahre alt. Die Taten führten zu Schuldgefühlen, Angstzuständen, Depressionen und bei mindestens 27 Betroffenen auch Suizidgedanken.

Die Forscher zeigten auf, dass es Missbrauchsfälle flächendeckend im gesamten Bistum gegeben hat. Damit widersprachen sie einer Aussage des 2013 verstorbenen Bischofs Reinhard Lettmann, der von Einzelfällen gesprochen hatte. Die Historiker deckten zudem ein System der Vertuschung auf. Demnach mussten die wenigsten Täter ernsthafte Konsequenzen fürchten. „Die Kirche hat sich hier als Täterinstitution gezeigt“, sagte der Leiter der Studie, Prof. Thomas Großbölting. Ein Großteil der Fälle wurde vertuscht, Beschuldigte wurden geschützt, etwa indem moraltheologisch geschulte Bischöfe und Personalverantwortliche sie in andere Pfarreien versetzten. Dass durch die Versetzungen der Beschuldigten erneut Kinder in Gefahr gebracht wurden, mache auch ihn fassungslos, sagte Großbölting.

Vertuschung, um öffentliche Skandale zu vermeiden

Über 90 Prozent der beschuldigten Kleriker wurden nicht strafrechtlich verfolgt. Die Personalverantwortlichen im Bistum „haben vertuscht, geschwiegen und lediglich vordergründig eingegriffen, wenn es darum ging, einen öffentlichen Skandal zu vermeiden. Die Betroffenen hatten sie nicht im Blick“, ergänzt der ebenfalls an der Studie beteiligte Historiker Klaus Große Kracht. Obwohl sich ein Großteil der Betroffenen erst nach 2010 bei der Diözese gemeldet habe, sei den Verantwortlichen in der Bistumsleitung schon in den 1950er Jahren Missbrauch durch Priester bekannt gewesen. Ein Schlaglicht werfen die Forscher in der Studie auf den 2008 emeritierten Bischof Lettmann. 28 Jahre lang war er der „oberste Hirte“ im Bistum. Insgesamt gehörte er mehr als 40 Jahre dem engeren Führungskreis an.

Das Team der Aufarbeitungsstudie (v.l.): Dr. Bernhard Frings, Prof. Dr. Thomas Großbölting, Dr. Natalie Powroznik, Dr. David Rüschenschmidt und Prof. Dr. Klaus Große Kracht. Foto: WWU/ Michael Möller

Das Team der Aufarbeitungsstudie (v.l.): Dr. Bernhard Frings, Prof. Dr. Thomas Großbölting, Dr. Natalie Powroznik, Dr. David Rüschenschmidt und Prof. Dr. Klaus Große Kracht. Foto: WWU/ Michael Möller

Eng verbunden mit ihm ist der Fall des Priesters Heinz Pottbäcker, der 1967 wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt wurde. Kurz vor dem Prozess brachte Lettmann ihn in einem Kloster unter. Nur einen Monat, nachdem der Missbrauchstäter 1968 zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war, wurde er wieder in der Pfarrseelsorge eingesetzt, wie die Studie aufzeigt. Mindestens 15 Jahre ging das so weiter. Erst erneute staatsanwaltschaftliche Ermittlungen durchbrachen 1983 „dieses merkwürdige Wechselspiel zwischen dem Täter und dem ihn schützenden Oberhirten“, schreibt Großbölting: „Die bischöfliche Fürsorge habe sich fast ausschließlich auf den Täter und klerikalen Mitbruder bezogen, während die zahlreichen Betroffenen Pottbäckers kaum Beachtung fanden.“

Kritik an Bischof Felix Genn

Auch der derzeitige Bischof von Münster, Felix Genn, wird von den Wissenschaftlern kritisiert. Genn habe in seinen Anfangsjahren dazu tendiert, Missbrauchstätern, die Reue zeigten, nicht immer mit der gebotenen Strenge zu begegnen. Seit einigen Jahren gebe es aber eine konsequente Haltung und deutliche Fortschritte bei der Verfolgung der Täter und der Aufklärung der Fälle im Bistum Münster, heißt es weiter. Allerdings kommen die Forscher zu dem Schluss, dass es sich bei den Bemühungen um Aufklärung um einen durch den Druck der Gesellschaft von außen „erzwungenen Lernprozess“ des Bistums handele.

Die Wissenschaftler haben die Ergebnisse ihrer Forschung in zwei Büchern vorgelegt. Foto: WWU/Michael Müller

Die Wissenschaftler haben die Ergebnisse ihrer Forschung in zwei Büchern vorgelegt. Foto: WWU/Michael Müller

Den Auftrag zur 1,3 Millionen Euro teuren Studie hatte das Bistum selbst gegeben. Mehr als zwei Jahre haben die Wissenschaftler Akten ausgewertet und mit Betroffenen gesprochen. Dabei hatten sie uneingeschränkten Zugang zu allen Unterlagen, die in den Archiven des Bistums vorhanden waren, betonen sie. Genn erhielt die Ergebnisse der Studie erst am Montag, nachdem sie Betroffenen und den Medien präsentiert worden war. Die Betroffenen dankten den Wissenschaftlern. „Wir vertreten nicht immer dieselbe Meinung, aber unser Dank gilt Ihnen vor allem dafür, dass Sie Verbrechen und Verbrecher endlich beim Namen nennen“, sagte Sara Wiese, stellvertretend für die Opfer.

Historiker fordert stärkere Einmischung der Politik

Genn will sich am Freitag (17.06.) ausführlich zur Studie und den daraus zu ziehenden Konsequenzen äußern. In einer ersten Stellungnahme sagte er, dass eine Bitte um Entschuldigung nicht ausreiche: „Mit dem Eingeständnis von Fehlern und einer ehrlichen Reue muss eine wirkliche Umkehr verbunden sein. Konkret heißt das für mich: Es müssen über das hinaus, was schon geschehen ist, weitere Konsequenzen im Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bistum Münster gezogen werden. Das ist für mich eine Verpflichtung, an der ich mich messen lassen möchte.“

Für Großbölting zeigt die Studie auch, dass die staatliche Zurückhaltung in Bezug auf den Missbrauch in der katholischen Kirche nicht mehr angemessen ist. „Es ist an der Zeit, dass sich die Politik, in welcher Form auch immer, hier stärker engagiert“, so der Historiker.

Jürgen Bröker, wsp

Zukunft Kirche

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