Frieda Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Weber und Helene Wessel (von links) sind die vier Mütter des Grundgesetzes. Foto: Bestand Erna Wagner-Hehmke, Stiftung Haus der Geschichte, Bonn
01.08.2009

„Mütter“, die kaum einer nennt

Zwei der vier Frauen im Parlamentarischen Rat, der 1948/49 das Grundgesetz erarbeitete, waren Westfälinnen: Helene Wessel aus Dortmund und Friederike Nadig aus Bielefeld.

Die erste Frau in der deutschen Parlamentsgeschichte, die sowohl Partei- als auch Fraktionsvorsitz innehatte, heißt – nein, nicht Angela Merkel, wie manche ebenso voreilig wie geschichtsvergessen antworten würden, sondern: Helene Wessel. Die aus Dortmund stammende Politikerin war von 1949 bis 1952 Vorsitzende der katholischen Zentrumspartei und Fraktionsvorsitzende im ersten Deutschen Bundestag. Helene Wessel zählt zu den vier „Müttern des Grundgesetzes“ – zu jenen vier Frauen also, die gemeinsam mit 61 Männern im Parlamentarischen Rat in Bonn 1948/49 das Fundament der Bundesrepublik Deutschland legten. Aus dieser Vierer-Runde stammten immerhin zwei Frau-en aus Westfalen, die auch politisch hier fest verwurzelt waren: die aus Herford stammende, im Bielefeld der Nachkriegszeit aktive Sozialdemokratin Friederike Nadig und eben Helene Wessel.

Wessels Wurzeln führen nach Dortmund. Dort wurde sie 1898 geboren, dort arbeitete sie – nach Schule, kaufmännischer Lehre und Handelshochschule – als Sekretärin in der katholischen Zentrumspartei. Noch während ihrer Ausbildung zur „Jugend- und Wirtschaftsfürsorgerin“, wie es damals hieß, hatte sie sich im „Windhorstbund“ engagiert, der Jugendorganisation der Zentrumspartei. Die Parteiführung erkannte das Talent der jungen Frau früh und berief sie, die gerade 27 Jahre alt geworden war, in den Reichsvorstand der Zentrumspartei. Sie sah sich dessen linksliberalen Flügel verbunden. Als 30Jährige wurde Helene Wessel 1928 Abgeordnete des Zentrums im Preußischen Landtag, dem sie bis zur Selbstauflösung 1933 angehörte.

Einspruch gegen die Nazis

Auch das ist nahezu vergessen: Nicht nur im Reichstag, sondern auch im preußischen Landtag wurde das „Ermächtigungsgesetz“ der Nazis durchgepeitscht – und Wessel gehörte zu den drei mutigen Abgeordneten ihrer Fraktion, die diese Selbstentmachtung der Demokratie ablehnten und das auch offen bekundeten. In der Zeit des NS-Regimes arbeitete Helene Wessel in einem Dortmunder Krankenhaus, später beim „Katholischen Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder“ in Dortmund. Nach Kriegsende engagierte sie sich für das Wiedererstehen der Zentrumspartei – zum Teil gegen ihre einstigen Mitstreiter, die nun das Vorhaben einer überkonfessionellen, christlich-bürgerlichen Partei, der späteren CDU, unterstützten. Als im Oktober 1945 in Soest die Zentrumspartei wiederbegründet wurde, war Helene Wessel federführend beteiligt; ein Jahr später wurde sie stellvertretende Parteivorsitzende. Im Oktober 1949 schließlich wurde sie zur Vorsitzenden der Deutschen Zentrumspartei und zur Fraktionsvorsitzenden ihrer Partei im Bundestag gewählt.

Doch zuvor, wie gesagt, war sie Mitglied im Parlamentarischen Rat. Dort setzte sie nicht nur Akzente in den Debatten zur Sozial- bzw. der Frauenpolitik, sondern sie kümmerte sich eben-so auch um Fragen des Wahlrechts, der Parteien, der Gesetzgebung des Bundes, dem Finanz-wesen und der Stellung der Richter. Helene Wessel galt als tiefreligiöse Frau, die in Fragen der Sozialpolitik eher linksliberale Positionen, in Fragen von Ehe und Familie eher konservativ-katholische Vorstellungen vertrat. Das verband sie mit Helene Weber, die für die CDU im Parlamentarischen Rat saß. So argumentierten beide gemeinsam für den besonderen Schutz von Ehe und Familie sowie des Schulwesens, wie er sich in den Artikel 6 und 7 des Grundgesetzes niederschlug.

Streitbare Demokratin

Bei der Schlussabstimmung am 8. Mai 1949 verweigerte Helene Wessel – als einzige der vier Frauen – ihre Zustimmung zum Grundgesetz. Dazu führte sie zwei Gründe an. Zum einen seien ihrer Meinung nach christliche Werte zu wenig berücksichtigt, zum anderen fehlten aus ihrer Sicht betont sozialstaatliche Grundrechte. Eine streitbare Demokratin blieb sie weiterhin. So legte sie Anfang 1952 sämtliche Parteiämter nieder. Damit zog sie die Konsequenz aus dem Rechtsruck der Zentrumspartei, den sie nicht hatte verhindern können. Die Tradition des sozial engagierten Katholizismus, für den sie stand, hatte in der Zentrumspartei an Gewicht deutlich verloren. Diese Entwicklung und ihre Ablehnung gegen die Deutschlandpolitik Adenauers brachte sie an die Seite des aus dem westfälischen Schwelm stammenden Rechtsanwalts und späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann. Sie wurde Mitglied seiner Gesamtdeutschen Volkspartei; nach deren Scheitern 1957 trat sie der SPD bei, für die sie von 1957 bis 1969 erneut im Bundestag saß. Am 13. Oktober 1969 starb Helene Wessel in Bonn.

Im Westfalen-Parlament

Die zweite Westfälin im Parlamentarischen Rat war Friederike „Frieda“ Nadig, geboren am 11. Dezember 1897 in Herford. Friederike Charlotte Louise Nadig, so ihr vollständiger Name, stammte aus einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus. Schon ihr Vater Wilhelm Nadig war langgedienter SPD-Abgeordneter im preußischen Landtag von 1919 bis 1931. Diese Herkunft schien ihr Lebenslauf vorzuzeichnen: Kaufmännische Lehre im „Konsum-Verein“, Mitgliedschaft im „Sozialistischen Arbeiterjugend“ und in der „Sozialistischen Angestelltengewerkschaft“, im Kriegsjahr 1916 schließlich Eintritt in die SPD. Seit 1920 hatte sie die Frauenschule in Berlin besucht und war später als Wohlfahrtspflegerin tätig. Ihr Schwerpunkt war die Jugendwohlfahrt. In Bielefeld war sie lange als Jugendfürsorgerin tätig – ein kommunales Engagement, das bald auch in politischem Engagement mündete: Von 1930 bis 1933 war sie Abgeordnete im „Westfalenparlament“ des Provinzialverbandes, dem Vorläufer des späteren Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. 1933 wurde sie aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Nur mit Mühe fand sie Anfang 1936 eine Anstellung beim Gesundheitsamt des Kreises Ahrweiler. Unmittelbar nach Kriegsende 1945 kehrte sie nach Ostwestfalen zurück. Dort wurde sie Geschäftsführerin der wiedergegründeten Arbeiterwohlfahrt. Gleichzeitig wirkte sie maßgebend am Neuaufbau des SPD-Ortsverbandes Bielefeld und des Bezirksverbandes Ostwestfalen mit. Dem folgten Aufgaben in politischen Gremien – so etwa im Zonenbeirat der britischen Besatzungszone und im nord-rhein-westfälischen Landtag, dessen Abgeordnete sie seit 1947 war.

„Was jetzt festgelegt wird, gilt für Jahre“

Der Landtag entsandte Nadig in den Parlamentarischen Rat. Dort setzte sie sich vor allem für Fragen der Sozialpolitik ein. Aber sie zählte – heute völlig vergessen – auch zu den engagierten Befürwortern eines Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung. Als über die Gleichberechtigung von Mann und Frau debattiert wurde, stützte auch Friederike Nadig diesen Vorstoß. Dabei hob sie zum einen die anzustrebende Lohngleichheit hervor. Zum anderen verwies sie auf die starken Ungleichgewichte in der westdeutschen „Zusammenbruchgesellschaft“, in der deutlich mehr Frauen als Männer lebten. Die Differenz betrug 7,2 Mio. Menschen – vor allem als Folge des Krieges. Darauf und auf das Wählerpotenzial der Frauen spielte Nadig an, als sie ausführte: „Was jetzt im Grundgesetz festgelegt wird, gilt für Jahre. Das Übergewicht von sieben Millionen Frauen bedeutet eine gewaltige Macht, die für das Recht voll eingesetzt werden muss.“ Frieda Nadig setzte sich vehement für die rechtliche Gleichstellung von unehelichen und ehelichen Kindern ein. Darin widersprach sie den beiden vom Katholizismus jener Jahre geprägten Mitstreiterinnen Helene Wessels und Helene Weber – die „Mütter des Grundgesetzes“ waren also alles andere als eine homogene Gruppe. Später vertrat Friederike Nadig die Wahlkreise Bielefeld-Stadt bzw. Bielefeld-Halle zwischen 1949 und 1961 im Bundestag. Sie starb am 14. August 1970 in Bad Oeynhausen.

Gisbert Strotdrees

aus dem Westfalenspiegel 04/2009

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