21.04.2023

Nenes Lebenswille

BUCHTIPP: Preisgekrönter Debütroman der Bochumer Autorin Annika Büsing

Lässt sich eine Teenagerliebe in heutigen Zeiten ohne Brüche und Dissonanzen erzählen? In Annika Büsings Romandebüt „Nordstadt“ führt gleich der erste Absatz mitten hinein in eine Beziehungsgeschichte, die komplizierter kaum sein könnte. Zugleich klingt ein poetischer Tonfall an, der den gesamten Roman durchzieht:

„Dicke Schneeflocken fallen auf uns herab, bleiben in seiner Mütze hängen, verfangen sich in seinen Wimpern oder gehen gelassen zu Boden. Wir haben das Frühjahr zusammen verbracht und den Sommer. Im Herbst habe ich ihn verloren. Oder er mich. Vielleicht war es auch weniger dramatisch und wir hatten beide zu tun und ich habe aufgehört, seine Nachrichten zu beantworten. Ich friere entsetzlich, denn ich habe keine Jacke mitgenommen, als ich nach draußen gestürmt bin. Er dagegen ist eingepackt, als wolle er nach Sibirien auswandern. ‚Wird das den Winter überdauern?‘ Ich finde die Frage pathetisch. Und herzlos. Wie kann man gleichzeitig pathetisch und herzlos sein? Geht das überhaupt?“


Dieser Beitrag ist aus Heft 1/2023 des WESTFALENSPIEGEL. Ihnen gefällt, was Sie hier lesen? Gerne senden wir Ihnen im Rahmen unseres Probeabos zwei kostenlose Ausgaben unseres Magazins zu. Hier geht’s zum Probeabo.


Die Worte stammen von Nene, der Hauptperson des Romans. In einem Endlosmonolog erzählt sie impulsiv, frech, pointiert, frei von der Leber weg. Ohne Tabus und oft im Gassenjargon. Über all den „Armutsscheiß, Suchtscheiß, Gewaltscheiß“, der ihren Alltag prägt. Über ihre Tätigkeit als Bademeisterin, ihre Herkunft aus asozialem Milieu, ihr freies Sexualleben, darüber, wie sie mit 17 vergewaltigt wurde. Über ihren alkoholkranken Vater, der sie grundlos derart verprügelte, dass ein ums andere Mal das Jugendamt auf den Plan treten musste und sie zwischenzeitig in Wohngruppen einquartierte.

Traumjob Schwimmlehrerin

Familiäre Geborgenheit kennt Nene nicht. Als ihre Mutter stirbt, ist sie erst acht. Der Weg zum Sozialamt gehörte schon damals für die Familie zum Alltag. Doch Nene hat, wie es heißt, „Grips“, schafft den Realschulabschluss und bekommt den erträumten Job als Schwimmlehrerin. Sie will ihr Leben meistern, und das auf eigene Faust: „Am schlimmsten war es, ungefragt Mitleid zu bekommen. Ich wollte kein Mitleid. Ich wollte ein neues Leben.“ Später kommt sie eine Zeit lang bei Alma, ihrer 13 Jahre älteren Halbschwester, unter. Bald darauf bezieht sie ihre erste eigene Wohnung.

Nene verfügt über einen unbändigen Lebenswillen. Sie folgt ihrem Herzen und nimmt die Dinge, wie sie kommen. Und verliebt sich Hals über Kopf in Boris und seine Pumaaugen: „Er hat Augen, die machen dich wild. Wirklich. Ganz ganz dunkel sind sie. Und wenn du in sie hineinblickst, dann weißt du, er kann Geschichten erzählen. Wilde Geschichten sind das, und du weißt nie, ob sie zur Hälfte gelogen sind.“

Annika Büsing hat im vergangenen Jahr den Literaturpreis Ruhr erhalten. Foto: Literaturbüro Ruhr/Dirk A. Friedrich

Annika Büsing hat im vergangenen Jahr den Literaturpreis Ruhr erhalten. Foto: Literaturbüro Ruhr/Dirk A. Friedrich

Doch Boris steht stellvertretend für die prekären Lebensverhältnisse der Ruhrgebietsstadt. „Wer dort herkommt, startet mit schwerem Gepäck ins Leben“, heißt es. Er ist zusätzlich vom Schicksal gestraft. Weil seine Mutter ihm eine Impfung gegen Kinderlähmung vorenthielt, humpelt er nun wie ein „alter, behinderter Mann“ und wird, schlimmer noch, von Gleichaltrigen als Krüppel, Quasimodo oder Spasti gehänselt. Er hat keine Ausbildung, keine Perspektive, und seine Gefühle spielen mit ihm Achterbahn. Hoffnungen auf einen Arbeitsplatz platzen ein ums andere Mal. Er resigniert, verliert jeden Lebensmut. Allein die Liebesbeziehung zu Nene gibt ihm Halt. Doch dann versinkt er wieder in Selbstzweifeln und Depressionen.

„Ein depressiver Haufen Zellmüll“

„Boris hasst Menschen im Allgemeinen. Das unterscheidet uns stark voneinander“, resümiert Nene. Sie erkennt, dass das, was mit ihm passiert, „ein Untergang“ ist: „Zellen gehen unter, Zellkerne gehen unter, Muskelfasern gehen unter. Degeneration größer Regeneration. Es ist das, was uns allen blüht. Aber nicht mit fünfundzwanzig … Er wird schneller müde. Er hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Er hat Muskelschmerzen, Schmerzen in den Gelenken. Er friert oft.“

Jede Menge Buchtipps

Kein Lesefutter mehr? Kein Problem: Wir zeigen Ihnen Bücher westfälischer Autoren oder mit Bezug zur Region. Viel Freude beim Stöbern.

Und Boris? Er sagt: „Ich bin praktisch wie ein Opa“, er sei vom Tod markiert. Die Einsicht in seine Lage mündet in dem Satz: „Ich bin ein depressiver Haufen Zellmüll.“ Nene kommentiert ein Zusammentreffen mit ihm im Schwimmbad mit den Worten: „Das Wasser lief an Boris herab, und es sah aus, als seien es Tränen.“ Einer von vielen sprachmächtigen Sätzen des Romans.

Die Kraft des Erzählens

„Nordstadt“ ist im Göttinger Steidl Verlag erschienen.

„Nordstadt“ ist im Göttinger Steidl Verlag erschienen.

Boris hat aber auch eine andere Seite. In all seiner Schüchternheit kann er charmant und rücksichtsvoll sein. Hochtalentiert hat er in jungen Jahren einen gut dotierten Preis für Druckgrafik bekommen. Und er kann „geil erzählen“. Seine Geschichten sind, wie Nenes Lebensbeichte, ein Plädoyer für die Kraft des Erzählens und der Fantasie.

Die ,Beziehungskiste‘ ist Teil von Nenes Weg zum Erwachsenenwerden. Die Dimension Tod tritt immer spürbarer in ihr Leben. Ihr Vater stirbt, ebenso zwei Gäste des Hallenbads. Sie weiß, sie muss für Boris eine Art Therapie finden. Dabei ist sie selbst alles andere als eine gute, gegen alles gefeite Fee, leidet an klaustrophobischen Anfällen und sexueller Triebhaftigkeit. Ist bei so viel Problemen ein Happyend zu erwarten? Die Frage bleibt unbeantwortet.

Annika Büsings Debütroman besteht aus Protokollen, die mitten im kaputten Leben angesiedelt sind. Sie handeln von Menschen, die nicht mit ihrem Alltag klarkommen. Die Botschaft lautet: Mach’s wie Nene, resignieren gilt nicht.

Jedes Wort sitzt

„Nordstadt“ erschien 2022. Schon im ersten Jahr gab es vier Auflagen. Zugleich erhielt Annika Büsing den zum zweiten Mal vergebenen „neuen“, mit 15.000 Euro dotierten Literaturpreis Ruhr. Die Jury befand, dass in „Nordstadt“ jedes Wort „sitze“. Büsing „seziere die Verhältnisse „messerscharf“ und erzähle eine „schnelle, raue Liebesgeschichte von robuster Sensibilität“ mit Humor und großer Empathie.

Annika Büsing, Jahrgang 1981, stammt aus dem Ruhrgebiet. Nach dem Lehramtsstudium ging sie zum Jobben und Schreiben nach Island, bevor sie in Hamburg ein Referendariat begann. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in Bochum, wo sie an einem Gymnasium unterrichtet.

Walter Gödden

Lesen Sie auch im Bereich "Kultur"

Testen Sie den WESTFALENSPIEGEL

Ihnen gefällt, was Sie hier lesen? Dann überzeugen Sie sich von unserem Magazin