Neue Stimmen für Europa
Verena Mertens und Ingo Stucke aus Ostwestfalen kandidieren für das EU-Parlament. Fast fünf Jahre lang hat kein EU-Abgeordneter die Region vertreten.
Fast 40 Jahre lang war Elmar Brok Abgeordneter im EU-Parlament. 1980 ging der CDU-Politiker aus Ostwestfalen nach Brüssel; damals war die EU noch eine Zollunion mit neun Mitgliedsstaaten. Brok wurde in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zu einem der profiliertesten EU-Außenpolitiker. Einige Jahre lang leitete er den Auswärtigen Ausschuss des Parlaments und war seit 2009 außenpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion. Und: Er vertrat die Anliegen und Interessen der Region Ostwestfalen-Lippe in Brüssel und Straßburg. Bis zu seinem Abschied 2019. Denn damals gab es keinen Abgeordneten aus der Region, der Brok im EU-Parlament nachfolgte. Kommunen, Hochschulen und Unternehmen waren fortan dort ohne eigenen Ansprechpartner. Erst Anfang dieses Jahres rückte Birgit Ernst (CDU) aus dem Kreis Gütersloh ins Parlament nach.
Mit Elmar Brok sei der ostwestfälischen Wirtschaft „ein versierter und renommierter Ansprechpartner auf europäischer Ebene verlorengegangen“, sagt Petra Pigerl-Radtke, Hauptgeschäftsführerin der Industrie- und Handelskammer zu Bielefeld. Zwar gibt es in Brüssel eine Vertretung der Deutschen Industrie- und Handelskammer. Das Büro habe die Anliegen aus der Region „gut vertreten“, so die IHK-Chefin. Nun hoffe man darauf, „dass mit der bevorstehenden Europawahl wieder mindestens eine Vertreterin oder ein Vertreter aus Ostwestfalen in das EU-Parlament einzieht. Eine ostwestfälische Stimme im Parlament in Brüssel und Straßburg zu haben, kann für unsere Region nur gut sein.“
CDU schickt Juristin
Diese Stimme wird aller Voraussicht nach einer jungen Frau gehören. Verena Mertens tritt für die CDU mit dem sicheren Listenplatz vier im Wettbewerb um das Mandat an. Sie ist 42 Jahre alt, Juristin und Mutter einer kleinen Tochter. Kein „Political Animal“ mit langer Karriere in den Parteigremien, sondern eine Frau mit Erfahrung aus der Praxis, heißt es von der CDU. So ist Mertens seit fast zehn Jahren in verschiedenen Positionen bei Polizei und im Landeskriminalamt tätig, zuletzt leitete sie die Kriminalpolizei in Paderborn. Das Thema „Innere Sicherheit“ steht im Mittelpunkt ihrer Kandidatur. „Freiheit kann es meiner Überzeugung nach nur in Sicherheit geben“, sagt die Ostwestfälin im Interview mit dem WESTFALENSPIEGEL. Sie ist überzeugt von der europäischen Idee, gerade angesichts der herrschenden Herausforderungen und Krisen. „Ich habe Europa als Schülerin durch einen Aufenthalt in einer britischen Gastfamilie oder auch durch Interrailreisen kennengelernt. So habe ich erfahren, dass man bereits mit damals geringen Sprachkenntnissen in Kontakt mit Menschen vor Ort kommen kann. Das hat mich geprägt und ich möchte, dass auch die kommenden Generationen von solchen Möglichkeiten in Europa profitieren können“, sagt sie.
Im Wahlkampf, ob bei Podiumsdiskussionen oder auch bei Stadtfesten, bekommt Mertens bereits Themen mit auf den Weg nach Brüssel. „Da geht es dann zum Beispiel um Schwierigkeiten bei der gegenseitigen Anerkennung von Berufsausbildungen in Europa, aber auch um den Bürokratieabbau bei Unternehmen“, erzählt die Bewerberin. Mit dem Elan und dem Ehrgeiz einer neuen Abgeordneten will sie an der Gesetzgebung der EU mitarbeiten. „Es wäre für mich eine große Chance, Dinge dort zum Positiven hin zu verändern. Dafür lohnt es sich auch, im Privatleben zurückzustecken“, sagt Mertens mit Blick auf den Arbeitsalltag zwischen Paderborn, Brüssel und Straßburg.
Pfarrer kandidiert für die SPD
Ingo Stucke aus Bielefeld geht in diesen Tagen ebenfalls für Europa auf die Straße. Der 52 Jahre alte evangelische Pfarrer kandidiert für die SPD um ein Abgeordnetenmandat. Mit Listenplatz fünf in NRW bzw. 26 bundesweit sind seine Aussichten nicht ganz so gut. Doch Stucke tritt aus Überzeugung an. „Wahlkämpfe sind Hochfeste der Demokratie. Man klärt seine Positionen, erklärt Unterschiede und spitzt auch mal zu, um den politischen Mitbewerber zu stellen. Das macht mir Spaß“, sagt er gegenüber dem WESTFALENSPIEGEL. Der Historiker und Theologe bringt viele Jahre an Erfahrung in der Bielefelder Kommunalpolitik mit, unter anderem leitete er den Kulturausschuss im Stadtrat, trat bei Bürgermeisterwahlen an und ist stellvertretender Vorsitzender der SPD seiner Heimatstadt. Er ist überzeugter Europäer und berichtet, wie Ostwestfalen-Lippe von der EU profitiert hat: „Gerade ländliche Regionen wie der Kreis Höxter haben Förderungen aus dem Leader-Programm erhalten. Zu den Projekten zählen unter anderem Naturerlebnisstationen, digitale Dorf-Plattformen oder auch die Öffnung von Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. In Bielefeld entsteht gerade mit Unterstützung der EU die WissensWerkStadt mit Angeboten rund um Forschung und Wissenschaft für jedermann.“ Stucke engagiert sich für faire Arbeitsbedingungen. „Als Sozialdemokrat will ich mich im EU-Parlament dafür einsetzen, dass das Prinzip ‚gleicher Lohn am gleichen Ort‘ gilt. Das betrifft nicht nur Arbeiter aus anderen Ländern, die auf deutschen Schlachthöfen eingesetzt werden, sondern beispielsweise auch Helferinnen und Helfer in der häuslichen Pflege, von denen viele aus dem Ausland kommen und nicht ausreichend abgesichert sind“, sagt er. Im EU-Parlament fühlt sich Stucke mit diesen Themen am richtigen Ort. „Ostwestfalen liegt im Schnittpunkt Europas, hier kreuzen sich wichtige Verkehrs- und Handelsrouten. Wenn man für die Region etwas bewirken möchte, dann in Brüssel“, ist er überzeugt.
Fünf Jahre nach seinem Abschied aus dem EU-Parlament wird auch „Mr. Europa“ Elmar Brok nicht müde, für die europäische Sache zu werben. Es gehe dabei um die Wirtschaft und Arbeitsplätze in Ostwestfalen, aber auch um den Frieden und Freiheit. „Europa ist kein theoretisches Konstrukt, das Geld kostet, sondern eine Schicksalsgemeinschaft“, sagt er.
Annette Kiehl
Lesen Sie mehr zur Europawahl im WESTFALENSPIEGEL 03/2024 und hier.