Neues Priesterbild gesucht
Als Grund für ihren Austritt aus der katholischen Kirche nennen viele Menschen den Missbrauchsskandal sowie mangelnde Transparenz bei der Aufklärung. Der Historiker Prof. Thomas Großbölting leitet die Missbrauchsstudie in Münster. Über die Arbeit seiner Forschungsgruppe spricht er im Interview.
Herr Großbölting, in Köln verschwand eine Studie zu den Missbrauchsfällen wieder in der Schublade. Ist ein ähnlicher Vorgang auch für Ihre Studie in Münster denkbar?
Nein. Weder in der inhaltlichen Arbeit noch bei der Veröffentlichung gibt es ein Direktionsrecht oder eine Möglichkeit des Bistums Münster, da noch einmal einzugreifen. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu Köln. Dort war das Bistum der Auftraggeber. Deshalb konnte Kardinal Wölki das erste Gutachten einkassieren. Wir können veröffentlichen, was wir für wichtig halten. Außerdem hat das Bistum selbst großes Interesse daran, gar nicht erst in den Ruf zu gelangen, es wollte Einfluss nehmen.
Sie können also unabhängig mit Ihrem Forschungsteam arbeiten?
Absolut. Wir machen keine Auftragsforschung für das Bistum. Stattdessen gibt es einen Zuwendungsvertrag. Das Bistum hat die für die Forschung nötigen Gelder der Universität zur Verfügung gestellt. Und wir als Forschungsprojekt können darüber frei verfügen unter der einzigen Maßgabe, dass das Geld für dieses Projekt eingesetzt wird. Wir haben auch Zugang zu allen Akten. Das erlebe ich als sehr positiv.
Was waren für Sie die bisher wichtigsten Ergebnisse?
In gewisser Weise ist es die Tatsache, wie viel schon zeitgenössisch über die Missbrauchsfälle gewusst wurde: Wir haben bisher etwa 300 Opfer und 200 Beschuldigte. Die Beschuldigten sind Priester, denen nachgesagt wurde, sexuellen Missbrauch begangen zu haben. Die Taten dahinter reichen von neugierigen, unangemessenen Fragen im Beichtstuhl bis hin zu brutalen Vergewaltigungen. Es ist für mich erschreckend, wie viel Wissen um den Missbrauch es auch schon vor 2010 gegeben hat. Sowohl im Bistum wie auch in den Klerikerkreisen als auch in den Gemeinden haben viele Menschen davon gewusst – schon in den 1960er, 70er und 80er Jahren. Mit diesem Wissen ist nichts gemacht worden. Und das in einer Institution, die sich ja selbst radikal der Nächstenliebe verschrieben hat.
Welche Schlüsse sollte die Kirche aus den Ergebnissen ziehen?
Es ist nicht unsere Aufgabe, Kirche zu beraten oder ihr Wege aus der Krise aufzuzeigen. Aber wir schauen sehr genau, was seit den 2000er Jahren an Präventionsarbeit passiert ist und inwieweit diese dazu beigetragen hat, Missbrauch zu verhindern und die Aufdeckung solcher Fälle zu fördern. Außerdem werden wir auf die strukturellen Bedingungen aufmerksam machen, die den Missbrauch und die Vertuschung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche ermöglicht haben. In diesem Zusammenhang ist unsere Arbeit sicher zukunftsweisend.
Wo könnten Ansätze liegen?
Die katholische Sexualmoral muss dringend auf den Prüfstand. Sexualität wird tabuisiert und gleichzeitig wird doch immer wieder darüber gesprochen – zum Beispiel auch in Beichtgesprächen. Die im Katholischen propagierte Haltung zur Sexualität ist nicht menschenfreundlich. Außerdem führt die Rollenverteilung in der katholischen Kirche zu Machtkonzentration Einzelner, die zu hoher Intransparenz und zu vielen Fehlentscheidungen führen kann.
Wie meinen Sie das?
Nehmen wir zum Beispiel den Bischof als Amtsinhaber. Er ist gegenüber den ihm unterstellten Priestern gleichzeitig der Richter, der Personalvorgesetzte, in vielerlei Hinsicht auch der Seelsorger, der geistige Begleiter. In diesem Gefüge können massive Rollenkonflikte entstehen, die dann auch zu Überforderung führen. Darüber hinaus braucht es eine Kultur der Verantwortungsübernahme und eine unabhängige Gerichtsbarkeit, über die bestehenden Strukturen hinaus. Die katholische Kirche wird darüber nachdenken müssen, Machtstrukturen abzubauen. Der Kleriker, der geweihte Mann, bekommt eine Pastoralmacht, die den Tätern unter ihnen Missbrauch ermöglichen. Außerdem geraten Opfer und Betroffene aus dem Blickfeld, weil man dem Mitbruder helfen möchte oder Beschmutzung vom geweihten Amt fernhalten will. In einer Zukunftsvision müsste es also auch um ein Priesterbild gehen, das nicht so stark auf Exklusivität und Macht fixiert ist.
Interview: Jürgen Bröker
Der Beitrag erschien in Heft 3/2021 des WESTFALENSPIEGEL. Lesen sie auch unser Dossier zum Thema Zukunft Kirche.