Dr. Leon Windscheid. Foto: Daniel Witte
18.12.2020

„Nichts hasst unser Gehirn mehr als Ungewissheit“

Vor fünf Jahren hat Dr. Leon Windscheid bei Günther Jauch eine Million Euro gewonnen. Heute ist er Wirtschaftspsychologe, schreibt Bücher und hält Vorträge. Außerdem ist er an Gastronomiebetrieben beteiligt. Im Interview spricht er über die Herausforderungen für unser Gehirn in der Krise, die Bedeutung sozialer Kontakte und den Vorteil von Langeweile.

Sie sind selbst an Gastronomiebetrieben in Münster beteiligt – was kann der Psychologe Windscheid, dem Gastronomen Windscheid Tröstendes an die Hand geben?
Grundsätzlich liefen unsere Geschäfte vor der Krise sehr gut. Das ist ein wichtiger Punkt. Deshalb sollte man auch nicht in eine Kopf-in-den-Sand-Nörgel-Mentalität verfallen. Für die Leute, die bei uns arbeiten, ist die Situation schwieriger. Es fehlen die Trinkgelder, wir kommen nicht mehr zusammen – das fehlt viel mehr und überwiegt. Die Sorge um das Geschäft als solches ist nicht so groß. Klar, wir müssen das jetzt durchhalten, aber ich bin auch zuversichtlich, dass es nach der Krise wieder weitergeht. Und aus psychologischer Sicht ist es wichtig, nicht zu katastrophisieren. Man sollte sich immer wieder vor Augen führen, dass es wieder besser werden wird.

Sehen Sie die Krise auch als Chance?
Ich bin vorsichtig, immer unbedingt das Positive in der Corona-Krise zu suchen. Es sterben viele Leute, und die soziale Isolation ist gerade für Singles, für ältere Menschen und für Leute, die nicht ganz so gut vernetzt sind, eine riesige Katastrophe. Für die Psyche ist das eine regelrechte Folter. Vor diesem Hintergrund tue ich mich schwer mit dieser Mentalität: Hey, jede Krise bietet auch Chancen.

Also doch den Kopf in den Sand stecken?
Nein, aber diese Krise ist jetzt einfach mal ein Tiefschlag und als solchen sollten wir das auch anerkennen. Wir sollten uns den Druck nehmen, daraus unbedingt die nächsten 1000 neuen Projekte für uns zu entwickeln. Andersherum merken wir auch, dass sich im Bereich Digitalisierung einiges getan hat. Das finde ich gut. Es hat plötzlich nichts Absurdes mehr, dass ich mit meiner Mutter über Skype spreche.

Ersetzen digitale Treffen in Zukunft immer häufiger reales Zusammensein?
Wenn alles nur noch über das Internet abläuft, wäre es sehr schade. Aber wir diskutieren ja schon in diese Richtung: Etwa an den Universitäten. Digitaler Unterricht funktioniert gut. Braucht man da nach Corona überhaupt noch Präsenzveranstaltungen? Der Online-Handel boomt, braucht man da noch Läden in den Innenstädten? Warum können wir nicht alle im Homeoffice arbeiten? Bei dieser Diskussion sollten wir nicht unterschätzen, welch hypersoziales Wesen der Mensch ist. Zusammenkommen, sich mit den Kollegen an der Kaffeemaschine austauschen, das ist wirklich zentral für uns. Und das wird mir in der Diskussion gerade viel zu klein gemacht.

Beruht diese Einsicht auf persönlichen Erfahrungen?
Ja. Mir hat die Krise gezeigt: Ich möchte mein Team sehen. Ich möchte mich austauschen. Ich möchte im Gespräch auch die B-Noten wie Gestik und Mimik mitbekommen. Das ist aber bei einer stockenden Skypeverbindung schwierig. Wenn man sich die sozialen Kontakte vorstellt wie Vitamin C, dann wird sehr deutlich, dass wir da aktuell eine Mangelerscheinung haben.

Die ständige Ablenkung etwa durch Smartphones schadet unserer Kreativität, sagt Dr. Leon Windscheid. Foto: pixabay

Die ständige Ablenkung etwa durch Smartphones schadet unserer Kreativität, sagt Dr. Leon Windscheid. Foto: pixabay

Was können wir tun?
An allen Stellen, wo es geht, sollten wir die Kontakte hochfahren. Natürlich unter Einhaltung der aktuell geltenden AHA-Regeln. Aber man kann zum Beispiel häufiger mit seinen Eltern telefonieren, man kann sich, wo es geht, mit einer Freundin oder einem Freund treffen und austauschen. Auch Routinen sind wichtige Helfer. Man sollte sich den Tag fest einteilen, gerade wenn man vielleicht nur im Homeoffice arbeitet. Einzelne Punkte sollten zuverlässig stattfinden, zum Beispiel ein Nachmittagsspaziergang. Darauf kann sich der Kopf dann einstellen. Das ist wichtig. Denn nichts hasst unser Gehirn mehr als Ungewissheit.

Was hilft noch?
Wir Menschen neigen dazu, uns zu vergleichen, zum Beispiel mit der eigenen Vergangenheit und man sagt sich: Was war das schön, als wir im letzten Jahr noch mit Freunden zum Weihnachtsmarkt gehen und einen Glühwein trinken konnten. Wie schrecklich ist es, dass das jetzt alles wegfällt. Wir können uns stattdessen auch mal vergegenwärtigen, dass es viele Menschen gibt, denen es viel schlechter geht. Es ist die Entscheidung: Mache ich die Situation aktuell für mich zur Katastrophe oder erde ich mich, in dem ich mir vor Augen führe, dass es mir im Vergleich zu vielen anderen doch ganz gut geht. Mir ging es vor einem Jahr zum Beispiel viel schlechter als jetzt, damals habe ich meine Weisheitszähne herausbekommen.

In Ihrem Podcast mit Atze Schröder – „Betreutes Fühlen“ – geht es um Gefühle. Welche Gefühle ruft die Corona-Krise hervor? 
Zuerst ist da sicher die Angst. Ich sehe da eine große Bandbreite. Ich kenne Menschen, die haben große Angst, andere haben „wabernde Sorgen“, das ist ein Vorstufe der Angst, und ich kenne Leute, die haben überhaupt keine Angst. Die haben eher diese Chancenmentalität verinnerlicht. Mir kommt die Angst als Gefühl in der Öffentlichkeit aber zu schlecht weg.

Erklären Sie das bitte.
Die Angst hat einen schlechten Ruf. Wir erziehen die Kinder mit breiter Brust durchs Leben zu gehen, wir verlangen von den Unternehmern, Mut zu zeigen. Angst zählt zu den negativen Gefühlen, die unglaublich schlecht dastehen. Das ist aber falsch. Wir brauchen diese negativen Emotionen. Corona ist wie ein Tsunami über uns hereingebrochen. Mit exponentiellem Wachstum und vielen Toten in vielen Ländern. Da braucht es Angst, um uns Menschen als große Masse zu bewegen. Angst gibt Kraft und den Impuls zur Veränderung. Aber man sollte sie nicht übermächtig werden lassen.

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Was macht uns denn Angst?
Drei Dinge: das Unerwartete, das Unkontrollierbare und das Unvorhersehbare. Beim Virus kommt das alles zusammen. Deshalb hat Corona zunächst bei vielen Menschen auch Angst ausgelöst. Wir haben aber auch gesehen, dass das Angstlevel dann schnell wieder gesunken ist.

Sie sind ein Freund der Langeweile. Trägt der Lockdown dazu bei, dass wir dieses Gefühl wieder häufiger spüren?
Ich würde mir wünschen, dass Langeweile eine größere Rolle spielen würde. Ich nehme das aber anders wahr. Die Zahlen der Streamingdienste steigen, es wird online geshoppt. Die Menschen setzen sich verschiedene Projekte auf die To-Do-Liste, damit auf keinen Fall Langeweile im Lockdown aufkommt. In der auferlegten Entschleunigung merken wir erst, wie schwer es uns fällt, einen Gang rauszunehmen. Aber Langeweile ist wichtig, sie schiebt Kreativität an. Und Langeweile kann dabei helfen, im Kopf wieder eine gewisse Ordnung herzustellen. Wenn wir gar keine Momente zulassen, in denen wir uns nicht ablenken, fehlt dem Kopf die Zeit, alles zu sortieren und zu verstehen. Wenn wir nichts machen, macht unser Gehirn sehr viel.

Kommt das Gehirn bei all den Herausforderungen in der schnellen Welt noch mit?
Wir reden von dem krassesten Ort, den es in diesem Universum gibt. Das Gehirn ist in der Lage eine Psyche zu kreieren und ein Bewusstsein zu schaffen. Das ist doch unglaublich. Wenn wir jetzt so tun, als ob das Gehirn, nur weil es alt ist, nicht in der Lage wäre, sich anzupassen, dann verkennen wir seine Fähigkeiten. Unser Kopf wird Wege finden, sich anzupassen und Lösungen zu finden.

Interview: Jürgen Bröker, wsp

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