Pieter Bruegel der Ältere: Bauernhochzeit, Gemälde, um 1567. Foto: Imago/United Archives International
01.10.2025

Prost Mahlzeit!

Das LWL-Museum für Archäologie in Herne führt durch die Kulturgeschichte des Essens und Trinkens – und zeigt, wie uns Rituale am Tisch verbinden.

Sehr praktisch, dieses Werkzeug aus Soest aus dem 14. Jahrhundert: Ein Ende ist mit einem Löffelchen versehen, das andere mit einem Zahnhaken und einem Zungenschaber. Es handelt sich also um ein wahres Multifunktionstool! Zudem sieht es aus wie ein Schmuckstück: fein gearbeitet, aus Silber gedreht und vergoldet. Im Mittelalter und in der Frühneuzeit trugen adlige Männer solche kostbar gearbeiteten Werkzeuge als Statussymbol mit sich und ließen sich mit ihnen sogar beerdigen. Von Shakespeare heißt es dazu passend: „Je seltsamer, desto vornehmer; ein großer Herr, das versichere ich Euch; man sieht es am Stochern in seinen Zähnen.“

Der Soester Zahnhaken ist eines der Exponate der großen Sonderausstellung „Mahlzeit!“ im LWL-Museum für Archäologie und Kultur in Herne und erstmals öffentlich zu sehen. „Wie Essen uns verbindet“ lautet der Untertitel der neuen Ausstellung, die informativ und unterhaltsam durch die Kulturgeschichte des Essens und Trinkens von der Steinzeit bis zur Gegenwart führt und den Blick auf soziale Aspekte lenkt.

Wandel der Tischkultur

„Ich habe heute gegessen, aber nicht gespeist“, zitiert der antike griechische Schriftsteller Plutarch einen anonymen Philosophen und führt weiter aus: „Denn zu einer richtigen Mahlzeit gehören immer Gesellschaft und freundliche Zuneigung.“ Erst durch

Auf einem großen Wimmelbild kann man auf die Suche nach Orten des Essens gehen. Foto: LWL / Malte Hömberg

Auf einem großen Wimmelbild kann man auf die Suche nach Orten des Essens gehen. Foto: LWL / Malte Hömberg

gemeinsame Mahlzeiten wird das biologisch notwendige Essen und Trinken zu einem kulturellen Phänomen mit Gewohnheiten und Ritualen, verdeutlicht die Ausstellung. Ob beim edlen Bankett, Familienessen oder Businesslunch – überall stellen sich ähnliche Fragen: Wer sitzt wo? Wer bekommt zuerst etwas auf den Teller? Und was verrät dies alles über Macht, Zugehörigkeit und gesellschaftlichen Wandel?

An Geschirr, Besteck und Tafelschmuck lässt sich der Wandel der Esskultur veranschaulichen. Das Ausstellungsteam um Kurator Dr. Matthias Bensch hat archäologische Fundstücke sowie künstlerische Arbeiten, Fotografien und audiovisuelle Medien als Exponate ausgewählt. „Wir präsentieren viele archäologische Funde aus Westfalen-Lippe, die uns spannende Geschichten über das Essen und Trinken erzählen, aber auch einige europäische und außereuropäische Objekte“, sagt Matthias Bensch.

Für alle Sinne

Der Weg durch die Ausstellung führt entlang einer großen Tafel. Thematisch geht es vom privaten zum öffentlichen Essen, vom intimen Dinner hin zu Mahlzeiten mit großem Publikum, zum Beispiel bei einem Esswettbewerb. Dabei will die Schau alle Sinne ansprechen: Hier liegt der Duft von Gebäck in der Luft, da ist das Klappern von Geschirr zu hören.

Zu Beginn der Schau heißt es: bitte am Tisch Platz nehmen. Und schon gehen die Fragen los: Welches Besteck nehme ich? Beginnt die Mahlzeit mit einem Trinkspruch? „Kulturen bilden Regeln für den gemeinsamen Umgang am Tisch aus. Bücher wie der ‚Knigge’ sagen uns, wie wir uns am Esstisch verhalten sollen“, macht der Archäologe Bensch deutlich.

Die Künstlerin Katerina Kamprani hat für ihre Kollektion „The Uncomfortable“ Objekte möglichst unbrauchbar gestaltet. Foto: Katerina Kamprani

Die Künstlerin Katerina Kamprani hat für ihre Kollektion „The Uncomfortable“ Objekte möglichst unbrauchbar gestaltet. Foto: Katerina Kamprani

Römer aßen im Liegen

Beim römischen Gastmahl zum Beispiel speisten die Beteiligten im Liegen auf Klinen, einer Art Speisesofa. Die LWL-Archäologie für Westfalen hat eine Kline anhand von Überresten aus einem römischen Grab bei Haltern am See rekonstruiert. Eine griechische Trinkschale wiederum zeigt ein Symposion, ein Gelage griechischer Männer, das auf den Bildern der Schale aus dem Ruder läuft und mit einer Rauferei endet.

Die Redewendung „Du kannst mir nicht das Wasser reichen“ ist auf die mittelalterliche Praxis zurückzuführen, sich beim Mahl die Hände zu waschen. Nur ausgewählte Diener reichten dazu den Herrschern Wasserschalen oder sogenannte Aquamanile. Und wenn Mächtige beim Zeremoniell die Standesunterschiede besonders sichtbar machen wollten, ließen sie die Mahlzeit mit Pauken und Trompeten begleiten. Viel Ehr, viel Feind: Ein sogenannter Natternbaum aus dem Besitz des Kurfürsten August von Sachsen (1526–1586) wurde als Schutzmaßnahme auf der Tafel positioniert, um etwaiges Gift in den Speisen anzuzeigen.

Frauen waren bei mancher Gesellschaft ausgeschlossen oder wie beim griechischen Symposion nur als sogenannte „Hetären“ willkommen, die allein dem Vergnügen der männlichen Gäste dienten. Die gemütliche Damenkaffeerunde wurde dagegen aus männlicher Sicht oftmals als faule Tratschveranstaltung abgetan: „Wenn die Männer auf dem Feld sind, schlürfen die Frauen“, lautet die Bildunterschrift einer Farblithografie von 1862, die vier Frauen zufrieden mit ihren Getränken zeigt.

Tradition aus Mexiko

Eine wichtige Rolle spielen die vielfältigen Anlässe, bei denen sich Menschen zu Mahlzeiten treffen: bei Festen, bei der Arbeit (veranschaulicht in Herne zum Beispiel durch Henkelmänner aus dem Ruhrbergbau), in der Diplomatie (das Ende des 30-Jährigen Krieges wurde 1649 in Nürnberg mit einem pompösen Festmahl gefeiert) oder bei religiösen Feierlichkeiten wie dem Totenmahl. Auffälligstes Exponat ist eine eigens für die Ausstellung angefertigte „Ofrenda“ der Bühnenbildnerin Andrea Barba: Solche bunt geschmückten Altäre erinnern in Mexiko am „Día de Los Muertos“, verwandt mit Allerheiligen, an die Verstorbenen. „Die Angehörigen bringen den Toten Speisegaben dar und verzehren dieses Essen gemeinsam. Sie wollen die Verstorbenen dadurch symbolisch in die Gemeinschaft zurückholen“, erklärt Bensch.

Einen besonderen Blick wirft das Ausstellungsteam auf Trinkkulturen, auf den Kaffeeklatsch, die Teezeit und den Einfluss von alkoholischen Getränken auf unser Sozialverhalten. Das größte Exponat ist die Trinkhalle von Emmy Olschewski (1904–1998), die früher nahe der Zeche Graf Schwerin in Castrop-Rauxel zu finden war. Olschweski führte sie von 1921 bis 1995 und stand mit 91 Jahren immer noch selbst hinter der Verkaufstheke. Der erste zuverlässige Beleg für Kaffeekonsum stammt übrigens aus der Zeit um das Jahr 900, verrät eine große Schauwand, die „Wendepunkte“ rund ums Essen und Trinken präsentiert: Ein persischer Gelehrter berichtete damals von der Heilkraft des Kaffees.

Das Auge isst mit

Oft sind es die „feinen Unterschiede“, die die Ess- und Trinkkultur ausmachen. Die europäische Tafelkultur der Frühen Neuzeit wollte mit erlesenen Speisen, repräsentativen Tischobjekten und kostbaren Materialien Eindruck schinden – das Auge isst mit. Gläser nach venezianischer Art, Ge­schirr aus Fayence, Porzellan, das aus China importiert wurde, bis man es ab 1708 auch in Europa herstellen konnte. Sehr einfach gehalten ist dagegen das Geschirr, das Pieter Bruegels Gemälde „Bauernhochzeit“ (um 1567) zeigt. „Einige im Bild dargestellte Objekte lassen sich ähnlich bei uns in Westfalen-Lippe auch archäologisch nachweisen“, sagt Bensch.

Der Natternbaum stammt aus dem Besitz des Kurfürsten August von Sachsen (1526-1586) und sollte auf der Tafel Gift im Essen anzeigen. Foto: LWL / Malte Hömberg

Der Natternbaum stammt aus dem Besitz des Kurfürsten August von Sachsen (1526-1586) und sollte auf der Tafel Gift im Essen anzeigen.
Foto: LWL / Malte Hömberg

Bei einem „Virtual Reality Dinner“ kann man sich in Herne ähnlich wie in einem Computerspiel an eine festliche Tafel des 18. Jahrhunderts setzen und Objekte aus jener Zeit digital näher betrachten. „Die LWL-Archäologie hat sie mit modernsten technischen Methoden gescannt“, erklärt Bensch. Virtuell mitzuerleben ist dabei die Geschichte eines Vertreters für Silberwaren, der im Herner Schloss Strünkede zu Gast ist.

Das dreiteilige Besteckset aus Messer, Gabel und Löffel etablierte sich übrigens erst um das Jahr 1700, und anfangs auch nur in der Oberschicht. Spannend ist es zu vergleichen, wie sich das Besteck über die Jahrtausende entwickelt hat: vom archaischen Faustkeil bis zum modernen Steakmesser. „Der Faustkeil aus der Zeit um 300000 vor Christus ist unser ältestes Objekt in der Ausstellung und auch das älteste Objekt überhaupt in Westfalen“, sagt Bensch. Das Steinwerkzeug aus der Gegend um Bad Salzuflen sei ein Universalgerät der Altsteinzeit, das man zum Schneiden, Schaben und Schnitzen nutzte. „Der Ursprung des modernen Messers“, so der Kurator.

Speisen mit Loriot

Die archäologischen Funde stehen in Herne immer wieder in Bezug zu Exponaten der Gegenwart: Fotos, Filmausschnitte, darunter Restaurantszenen aus Loriot-Filmen, ein riesiges Wimmelbild und das Gemälde „Das Mahl“ (2018) des Künstlers Jörg Strobel, der sich in Anlehnung an Leonardo da Vincis „Das letzte Abendmahl“ mit jüngeren Entwicklungen der Esskultur auseinandersetzt: Dort sitzen links und rechts neben einem Gourmetkoch ein Fitnessmensch, der sich von Pillen ernährt, eine Veganerin, ein Fast-Food-Junkie und ein junger Mann, der beim Essen auf einen Bildschirm starrt.

Aktuelle Trends wie Foodpostings und neue Formen der Eventkultur wie Esswettbewerbe und Krimidinner thematisiert die Ausstellung im Abschlussraum. „Essen wird zunehmend auch als Freizeitbeschäftigung wahrgenommen“, sagt Matthias Bensch. „Der Konsum des Essens rückt manchmal in den Hintergrund zugunsten des Erlebnisses wie zum Beispiel bei Event-Formaten wie dem Krimidinner oder dem Dinner in the dark.“

Martin Zehren

„Mahlzeit! Wie Essen uns verbindet“, LWL-Museum für Archäologie und Kultur, 3. Oktober 2025 bis 13. September 2026, geöffnet Di., Mi. und Fr. 9 bis 17 Uhr, Do. 9 bis 19 Uhr, Sa., So. und an Feiertagen 11 bis 18 Uhr, www.lwl-landesmuseum-herne.de

Lesenswerter Begleitband im Nünnerich-Asmus Verlag (28 Euro). Rahmenprogramm mit Vortragsreihe (z. B. zum Thema Kneipensterben), Workshops (z. B. Besteckschmuck), Familiensonntagen und museumspädagogischem Programm für alle Altersstufen

Der Beitrag stammt aus dem Magazin Westfalenspiegel 5/2025, das ab Anfang Oktober im Handel erhältlich ist.

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