Fritz-Hüser-Instituts ist einzigartig. Foto: FHI/Markus Steur
02.01.2024

Schreiben über Arbeitswelten

Das Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt in Dortmund sammelt und forscht seit mehr als 50 Jahren.

Wo soll man anfangen und wo aufhören? Wo beginnt die „Arbeitswelt“, wo endet sie? Solche Fragen drängen sich auf, wenn es um die Entwicklung des „Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt“ in den vergangenen 50 Jahren geht. 50 Jahre – das ist die Zeitspanne seit Gründung der in Dortmund ansässigen Einrichtung, die aus der Büchersammlung des Bibliothekars und vormaligen Werkzeugmachers Fritz Hüser (1908–1979) hervorgegangen ist und kürzlich Jubiläum feiern konnte. 1973 übergab Hüser seine seit den 1920er Jahren entstandene Sammlung, die bis heute auf rund 50.000 Bände sowie etliche literarische Vor- und Nachlässe angewachsen ist, offiziell der Stadt Dortmund. Die Bestände sind im deutschsprachigen Raum, aber auch international ohne Beispiel. Doch das Fritz-Hüser-Institut sammelt nicht nur, sondern forscht auch, veranstaltet Fachtagungen, vergibt Stipendien – und so weiter.

Knochenharte industrielle Maloche

Fritz Hüser (1908–1979), Werkzeugmacher, Bibliothekar und Sammler von Literatur der Arbeitswelt. Foto: Fritz-Hüser-Institut

Fritz Hüser (1908–1979), Werkzeugmacher, Bibliothekar und Sammler von Literatur der Arbeitswelt. Foto: Fritz-Hüser-Institut

Freilich hat es zunächst gedankliche Begrenzungen gegeben: Unter „Arbeitswelt“ verstand man in den Anfangszeiten fast nur die knochenharte industrielle Maloche in Zechen und Stahlwerken. Wesentlich geprägt wurden solche Vorstellungen von der damaligen Realität des Ruhrgebiets, wie sie sich zumal in der Dortmunder „Gruppe 61“ und im 1970 gegründeten Werkkreis Literatur der Arbeitswelt abzeichnete. Doch unter sukzessiver Leitung von Fritz Hüser, Rainer Noltenius (ab 1979), Hanneliese Palm (ab 2005) und jetzt Iuditha Balint (seit 2018) wurde das Betätigungsfeld des Instituts zusehends ausgedehnt.

In all den Jahren hat der Begriff der Arbeitswelt einige Weiterungen erfahren. Iuditha Balint und ihr Team entdecken in der Literaturgeschichte und in Neuerscheinungen zahllose Werke, die den Themenkreis vergrößern. So haben zum Beispiel auch Goethe („Wilhelm Meister“) oder Thomas Mann („Buddenbrooks“) recht eigentlich Arbeitswelten geschildert. Und wenn es um Bergbau geht, so war nicht erst Max von der Grün, sondern beispielsweise auch schon der Romantiker Novalis ein lebensweltlicher und literarischer Fachmann.

Literatur als Seismograph

Bereits in den 1920er Jahren fand – neben den „klassischen“ Arbeitern – das Leben der Angestellten Eingang in die Literatur. In den späten 70ern führte etwa Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie solche Ansätze beispielhaft fort. Ganzheitlich verstanden, definiert sich Arbeitswelt längst auch durch gegenläufige Biografien und Beschreibungen – Arbeitslosigkeit und prekäre Verhältnisse spielen denn auch in (auto)fiktionalen Texten eine wesentliche Rolle. Ferner wäre da die traditionsreiche Literatur über Vagabunden und Vaganten, wie denn überhaupt auch die Ablehnung von Arbeit innig mit der Arbeitswelt zu schaffen hat. Nebenbei bemerkt: Sprachgeschichtlich war Arbeit lange mit Mühsal und Qual verknüpft, Sinnstiftung und Wohlstand wurden erst relativ spät damit verbunden.

Autoren der „Gruppe 61" bei einem Treffen. Foto: Fritz-Hüser-Institut

Autoren der „Gruppe 61″ bei einem Treffen. Foto: Fritz-Hüser-Institut

Dass sich zuletzt viele Romane, Erzählungen, Stücke oder Gedichte um digitale Jobs (bis hin zu erbärmlich bezahlten „Clickworkerinnen“) drehten, versteht sich von selbst. Auch Selbstoptimierung im Fitness-Bereich („Workout“) darf als spezielle Form von Arbeit gelten, exemplarisch in John von Düffels Buch „Ego“. Durch Beobachtung des Buchmarkts, Gespräche mit Autorinnen und Autoren sowie Jury-Arbeit bemerken sie beim Hüser-Institut aktuelle Tendenzen recht früh. Instituts-Chefin Iuditha Balint: „Wir bekommen ziemlich genau mit, was gerade entsteht.“

Solidarität und Widerstand

So treten lange ignorierte Phänomene wie Hausarbeit, elterliche Arbeit und Pflege (so genannte „Care-Arbeit“) oder auch „Beziehungsarbeit“ in den Vordergrund – und damit auch zunehmend Frauen als Protagonistinnen. Und außerdem? Balint: „Es wird gerade erstaunlich viel über Solidarität geschrieben, über Widerstand, Streiks und Demonstrationen.“ Sollte sich die Literatur hier abermals als Seismograph erweisen? Sollte etwa eine neue Bewegung entstehen, so etwas wie eine außerparlamentarische Opposition neueren Zuschnitts? Wir werden sehen.


Musik

Dieser Beitrag ist aus Heft 6/2023. Ihnen gefällt was Sie hier lesen? Gerne können sie im Rahmen unseres Schnupper-Abos zwei Ausgaben des WESTFALENSPIEGEL kostenlos lesen. Hier geht´s zum Schnupper-Abo


Staunenswert übrigens auch der Lebenslauf von Iuditha Balint. In Rumänien als Angehörige der ungarischen Minderheit zweisprachig aufgewachsen, kam sie erst ums Jahr 2000 nach Deutschland. Wie die einstige Kindergärtnerin seitdem sich die deutsche Sprache angeeignet, studiert, promoviert und wissenschaftliche Karriere gemacht hat, das macht ihr so schnell niemand nach.

Dortmund mit seiner vielfältigen freien Kulturszene dürfte unterdessen der ideale Standort eines solchen Instituts sein; erst recht in unmittelbarer Nachbarschaft der Zeche Zollern, der Zentrale des LWL-Industriemuseums. Hier und im ganzen Revier hat man sich stets als Arbeitergegend verstanden. Wohl kein Zufall, dass ganz in der Nähe auch die an eine Bundesanstalt angegliederte DASA (vielbesuchte Arbeitswelt-Ausstellung) residiert. Ja, selbst im hiesigen Fußball geht die Rede, dass selbiger vor allem „gearbeitet“ und nicht so sehr leichtfüßig gespielt werden solle.

Bernd Berke

Weiter Informationen zum Fritz-Hüser-Institut finden Sie hier.

Lesen Sie auch im Bereich "Gesellschaft, Wissenschaft"

Testen Sie den WESTFALENSPIEGEL

Ihnen gefällt, was Sie hier lesen? Dann überzeugen Sie sich von unserem Magazin