Patienten, die an der Spanischen Grippe erkrankt sind, in einem Notfallkrankenhaus der Militärbasis Fort Riley in Kansas, USA, 1918. Foto: dpa
28.05.2020

„Seuchen sind schneller bei uns“

Der Historiker Malte Thießen sieht einen veränderten Umgang mit Infektionskrankheiten. Im Interview spricht er auch über Maßnahmen zur Bekämpfung von Seuchen früher und heute.

Herr Prof. Thießen, inwieweit ist die heutige Corona-Pandemie mit früheren Seuchen vergleichbar?
Es gab Seuchen, die deutlich tödlicher waren als die heutige Corona-Pandemie, im 20. Jahrhundert zum Beispiel die Spanische Grippe. Aber der Umgang der Menschen mit Seuchen war früher anders. Das kann man am Beispiel der Hongkong-Grippe 1969/70 sehen, bei der es allein in der Bundesrepublik 50000 Tote gab. Es kam zur Schließung von Ämtern, die Bundeswehr hat die Post mit ausgetragen, weil viele Postboten krank waren, es gibt Schilderungen, dass die Müllabfuhr bei Bestattungen mithelfen musste. Aber es stand relativ schnell der Impfstoff bereit, deswegen gab es keinen Shutdown in dem Maße wie heute. Vor allem aber war damals das Problembewusstsein geringer: Als die Todeszahlen stiegen, verlautbarte das Bundesgesundheitsamt, dass die Grippe meistens jene Menschen tödlich treffe, die vorerkrankt oder alt seien. Das wurde ein Stückweit noch als Beruhigung, als Normalität verstanden.

Woran liegt das?
Ende der 1960er Jahre gehörte der Tod zur bundesdeutschen Gesellschaft noch anders dazu. Zum einen war da das „mentale Gepäck“ des Zweiten Weltkriegs. Und es war viel selbstverständlicher, dass ältere und vorerkrankte Menschen als Gefährdete sterben. Das ist ein großer Unterschied zu heute, wo wir einen sensibleren Umgang mit Risikogruppen haben, was ich als großen Fortschritt sehen würde.

Welche Maßnahmen zur Bekämpfung von Seuchen wurden früher praktiziert?
Es gibt auch in der Bundesrepublik Beispiele für einen Shutdown, wenn auch keinen bundesweiten: Die Pocken wurden in den 1960er und frühen 70er Jahren mehrfach eingeschleppt, unter anderem im Bereich Meschede, und da kam es zu lokalen Isolations- und Quarantänemaßnahmen, um die Seuche nicht weiter zu verbreiten. Auch bei den Pestzügen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wurde versucht, ganze Städte und Regionen dichtzumachen. Das war meistens zum Scheitern verurteilt. Das Problem ist, dass die Viren oder Bakterien oft schneller waren als die jeweilige mediale Kommunikation und noch schneller als die behördlichen Anordnungen. Und der Handel musste für bestimmte Bereiche einfach weiterlaufen, deshalb gab es immer wieder Ausnahmen. Gesundheit gegen Wirtschaftlichkeit, Freiheit gegen Sicherheit, das ist eine Abwägung, die sehr alt ist. Großbritannien brauchte bei der Spanischen Grippe zum Beispiel sehr lange, um Häfen dichtzumachen, weil die wirtschaftlichen Schäden größer erschienen als die Bedrohung der Menschenleben.

Gibt es effektivere Maßnahmen?
Sehr viel effektiver ist es meistens, wenn der Staat möglichst früh versucht, die Bevölkerung miteinzubeziehen, früh aufzuklären und das alltägliche Verhalten zu ändern. Gerade bei Gesundheitsmaßnahmen, die angeordnet und zur Not mit Polizeigewalt durchgesetzt werden, gibt es oft Widerstand, der die Maßnahmen konterkariert. Versuche noch Anfang des 20. Jahrhunderts, Infizierte zu markieren und auszugrenzen, führten eher dazu, dass Betroffene untertauchten und die Seuche so viel schneller verbreiteten. Zuletzt wurde das klassische seuchenpolizeiliche Instrument wie Melderegister, Quarantänemaßnahmen und sogar Lager für Infizierte in den 1980er Jahren beim Umgang mit Aids und HIV diskutiert. Aber dann setzte sich ein anderer Weg durch – insbesondere Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth steht dafür: nicht mit Zwangsmaßnahmen zu agieren, sondern auf die Mitwirkung von Betroffenen zu setzen.

Prof. Dr. Malte Thießen. Foto: LWL/Kathrin Nolte

Prof. Dr. Malte Thießen. Foto: LWL/Kathrin Nolte

Werden bei Seuchenausbrüchen immer Randgruppen zu „Sündenböcken“ gemacht? 
Leider ist das eine Grundregel von Seuchen. In den Sozialwissenschaften wird das als „Othering“ bezeichnet: Die Seuche sind immer die anderen. Wenn Epidemien ausbrechen, gibt es in der ersten Phase oft nationale Zuschreibungen und drastische Abgrenzungen wie im Fall von Corona gegenüber Chinesen: In China läuft das sowieso nicht so richtig mit dem Gesundheitssystem, die essen dort Fledermäuse und Gürteltiere – und was man so hören konnte in der Zeit. In der zweiten Phase, wenn die Pandemie vor Ort angekommen ist, stehen häufig soziale Randgruppen oder Menschen mit Migrationshintergrund im Fokus, jene, die die Mehrheitsgesellschaft eher als „Fremde“ bezeichnet. Diese bilden die Projektionsfläche für Ängste. Seuchen verstärken Stereotype und Vorurteile.

Warum gibt es beim Ausbruch einer Seuche immer so viele Verschwörungstheorien?
Meistens sind es Verschwörungstheorien, die es schon gibt, für die die Seuche ein Katalysator ist. Wir versuchen, uns unbekannte Phänomene zu erklären, sie einzuordnen, die Seuche wird in das jeweilige Selbstbild und Weltbild gepresst, und deshalb wuchern in Seuchenfällen die Verschwörungstheorien. Ein bekanntes Beispiel sind bei den Pestzügen die Pogrome gegen jüdische Bewohner von Städten – da gibt es das Stereotyp von den Juden als Brunnenvergifter und Pestbringer. Seit der Gründung der ersten Pharmaunternehmen im 19. Jahrhundert ist auch das Motiv sehr verbreitet, die Unternehmen würden im Auftrag von Geheimorganisationen die Bevölkerung vergiften oder Viren in die Welt setzen, um durch den Verkauf von Medikamenten und Impfstoffen zu profitieren.

Sie sagen: „Seuchen sind ein Stresstest für Gesellschaften“. Gilt das auch für Regierungen?
Ja, zum einen ist Gesundheit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine der wichtigsten Fürsorgepflichten des Staates. Und wenn diese nicht eingehalten wird, und das legt der Seuchenfall offen, dann stehen Regierungen unter erhöhtem Legitimationsdruck. Zum anderen besteht international ein Wettbewerb um das bessere Gesundheitssystem. Im Kalten Krieg gab es ein Gerangel in der Seuchenbekämpfung, welcher der jeweiligen Blöcke die bessere Gesundheitspolitik nach Afrika oder Asien exportiert, um sich da auch machtpolitisch zu behaupten. Ein anderes Beispiel: Als in der Bundesrepublik Anfang der 1960er Jahre Epidemien wie Kinderlähmung auftraten, machte die DDR Bundeskanzler Konrad Adenauer das Angebot, Millionen Impfdosen zu verschenken, weil die DDR frei von der Seuche sei. Man profiliert sich also als gesünderer, besserer Staat, weil man die Seuche besser im Griff hat, und nutzt sie bewusst als politisches Instrument.

Wer sind denn in der Regel bei Seuchen die größten Gewinner?
Es wird ja immer gesagt, Seuchen seien der große Gleichmacher, weil sie alle gleichermaßen betreffen, was aber nur virologisch stimmt: Seuchen verstärken soziale Ungleichheiten. Die Gewinner sind bei Epidemien die, die die besseren ökonomischen Ressourcen haben, die sich zum Beispiel auf einen Landsitz zurückziehen können und andere Möglichkeiten der medizinischen Versorgung haben.
Ein großer Gewinner ist aber auch der medizinische Fortschritt. Gerade durch die sehr erfolgreiche Seuchenbekämpfung im 20. Jahrhundert, wo die Infektionskrankheiten wie niemals zuvor systematisch eingedämmt worden sind. Gleichzeitig ist der medizinische Fortschritt auch ein Problem. Wir haben Corona am Anfang unterschätzt, weil wir uns sicher fühlen vor Seuchen. Das Zeitalter der Immunität, in dem wir leben, führt dazu, dass uns zum Teil die Alltagserfahrung für Infektionskrankheiten fehlt, was in den 1950er und 60er Jahren noch ganz selbstverständlich war.

Durch die damals verbreiteten sogenannten Kinderkrankheiten?
Genau, was wir heute als Kinderkrankheiten bezeichnen, war in der Bundesrepublik früher nicht als Verniedlichung gemeint, sondern meinte schlichtweg, dass tausende Kinder jedes Jahr an diesen Krankheiten starben. Seit den 1970er und 80er Jahren haben wir zum Glück gegen Infektionskrankheiten wie Masern, Mumps, Polio und Diphtherie systematische Impfprogramme.

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Alle Welt hofft auf einen Impfstoff gegen das Coronavirus. Bei welcher Krankheit war ein neu entwickelter Impfstoff bislang der größte Segen? 
Die Pocken sind eines der wichtigsten Beispiele für die extrem erfolgreiche Durchsetzung eines Impfprogramms, weil es erstmals gelungen ist, eine Seuche auszurotten. Die Pockenimpfung gibt es schon seit Ende des 18. Jahrhunderts. Es hat also fast 200 Jahre gedauert, denn die Ausrottung ist 1980 erklärt worden – dank eines Impfprogramms vor allem der WHO in den 1960er und 70er Jahren. Da zeigt sich, was erreicht werden kann, wenn Impfprogramme auf globaler Ebene gemeinsam vorangebracht werden.

In den letzten 20 Jahren hatten wir Sars-Cov, Mers-Cov, Vogel- und Schweinegrippe, Ehec, Ebola, jetzt Corona – nehmen die Seuchen zu?
Es gibt heute nicht mehr Seuchen, aber früher sind bestimmte Infektionskrankheiten lokal begrenzt geblieben. Mit den kolonialen Bewegungen seit dem 16. Jahrhundert, spätestens im 19. Jahrhundert ist Europa global verzweigt, seitdem ändert sich nicht die Häufigkeit von Epidemien und Pandemien, aber die Geschwindigkeit ihrer Verbreitung. Die Hongkong-Grippe breitete sich zum Beispiel Ende der 1960er Jahre „im Radfahrertempo“ aus, also 150 bis 200 Kilometer am Tag. Bis zu den 1970er Jahren gab es nur wenig Flugverkehr, gerade Warentransporte liefen überwiegend über Schiffe. Und die hatten den großen Vorteil, dass sie lange brauchten. Meistens brach die Infektionskrankheit schon auf dem Schiff aus, dann konnten Quarantänemaßnahmen in den Häfen einsetzen. Der wichtigste Faktor für den Wandel des Seuchen-Panoramas ist die Selbstverständlichkeit des Flugverkehrs und des Flugtourismus. Heute sind Seuchen schneller bei uns.

Interview: Martin Zehren

Prof. Dr. Malte Thießen, geboren 1974 in Hamburg, leitet seit drei Jahren das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Geschichte der Gesundheit und Gesundheitsvorsorge sowie des Impfens.

Foto: LWL/Kathrin Nolte

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