Stadt im steten Wandel
800 Jahre Siegen: Einst groß geworden durch die Industrie, prägt heute die Uni zunehmend das Stadtbild.
Siegen ist in mancherlei Beziehung eine kuriose Stadt. Sie liegt weit weg von den Großstädten Köln, Frankfurt und Dortmund, geografisch mitten in der Bundesrepublik. Landesplaner nennen das einen Solitär. Das war vor 800 Jahren nicht anders, seit Erzbischof Engelbert zu Köln dem Flecken die Stadtrechte verlieh und sich so einen Platz im Stadtwappen neben dem nassauischen Löwen verdiente. Dafür lag Siegen im Zentrum der Handelswege im Reich, allemal als Durchgangsstation, aber ebenso als Anlaufplatz, um die hochwertigen Eisenprodukte des Landes zu erwerben und weiterzuverkaufen. Der erste Vorgängerbau der Martinikirche datiert aus dem 8. Jahrhundert, liegt auf einem Felssporn mit Blick auf eine Furt durch die Sieg, die für die Heerwege jener Zeit hohe strategische Bedeutung hatte. Immerhin: Siegen lag zwischen Franken und Sachsen; und sie war wegen der Eisenproduktion von hoher Bedeutung. Begonnen hatten damit die Kelten. Die mittelalterlichen Waldschmiede in der Region um Siegen setzten diese Tradition tausend Jahre später technisch weniger anspruchsvoll fort. Damit hatte die im nationalen Maßstab bedeutungslose Siedlung auch ihren Markenkern gefunden: Eisen und Stahl. Siegener Stahlschmiede waren eine streng abgeschottete Handwerksgilde, Profis, denen bei Todesstrafe verboten war, das Siegener Know-how über die Mauern der Stadt hinauszutragen. Dafür brachten Händler deren Produkte in alle Welt.
Walzen für die Welt
Und die Siegener blieben bei dem als lukrativ erkannten Geschäftsfeld. Es entstanden heute noch bestehende Familiendynastien, die über die Jahrhunderte in den verschiedensten Bereichen beträchtliche Vermögen anhäuften. Das hatte zumeist mit Eisen zu tun. Und man diversifizierte: Besitzer von Eisenhütten entdeckten im 19. Jahrhundert den Walzenguss als Betätigungsfeld. Noch heute kommt ein Großteil der Walzen weltweit aus der Region. Hinzu kam der Maschinenbau. Auch hier waren es die Eisenleute, die sich mit dieser Schlüsselbranche des 19. Jahrhunderts beschäftigten. Aus Eisenherstellern wurden Spezialisten, die die Technik für die Eisen- und Stahlproduktion und für die Weiterverarbeitung erfanden und produzierten. Stahl löste im 19. Jahrhundert die Textilwirtschaft als dominierende Branche des 18. und 19. Jahrhunderts ab. Weil die englischen Textilfabriken mit ihren technischen Innovationen den Deutschen das Geschäft verdarben, investierten ganze Familienverbände plötzlich in Eisen, in neue Techniken und in Anlagen, die auch Kohle aus dem Ruhrgebiet verarbeiten konnte, statt wie bisher Holzkohle. Dafür musste Siegen verkehrstechnisch näher an den Rest der Welt rücken. Die Lastenkarren, die über Hohlwege nach Köln oder Frankfurt fuhren, wurden durch die Eisenbahn ersetzt. Kohle kam von da an zu den Siegener Stahlwerken wie das Erz früher zu den Hütten des Ruhrgebietes. Das war ein ebenso tiefer Einschnitt wie der Bau der Sauerlandlinie.
Dieser Beitrag ist zuerst in Heft 4/2024 des WESTFALENSPIEGEL erschienen. Möchten Sie mehr lesen? Gerne senden wir Ihnen zwei kostenlose Ausgaben unseres Magazins zu. Hier geht es zum Schnupperabo.
Doch vorher kam noch im Jahr 1815 die Angliederung der Industrieperle an der Sieg an Preußen: Die Oranier übernahmen den niederländischen Königsthron und überließen ihr Stammland Nassau-Siegen den Preußen, die Siegen sofort mit fremden Beamten überzogen: Es folgte eine erste Einwanderungswelle, die bei den Immigranten Ratlosigkeit hinterließ, während die Siegener ihre Königstreue jetzt in Preußischblau zelebrierten. Denn die Siegener waren durchaus eigen, in mancherlei Beziehung. Eine „Region von tiefer Frömmigkeit“ war eine der freundlicheren Zuschreibungen, eine „Ansammlung von Muckern“ schon unfreundlicher. Jedenfalls pflegten sich die Einwanderer ins Siegener Land stets untereinander zu organisieren, um sich gemeinsam Einrichtungen wie der „Gesellschaft Erholung“ oder der Freimaurerloge „Zu den eisernen Bergen“ ein kleines Stück großstädtischen Lebens zu schaffen.
Siegen arbeitet sich an der Außenwelt ab – traditionell. Immer neue Einwanderungswellen erschütterten das traditionelle Gefüge. Zuerst die preußischen Beamten, dann kroatische und italienische Tunnelbauer, die in Siegen hängenblieben. Wittgensteiner Tagelöhner, die sich zu dauerhafter Ansiedlung entschlossen. Die Offiziere der in den 1930er Jahren erbauten Kasernen. Und beispielhaft auch die Beschäftigten der 1972 gegründeten Uni, die zum großen Teil von auswärts kamen und nach eigenen Aussagen den einen oder anderen Kulturschock mit den Einheimischen erlebten. Auch 800 Jahre nach Erzbischof Engelbert verändert sich Siegen in Richtung Moderne. Bundesweit gelobt wurde, dass die Stadt endlich eine Parkpalette über der Sieg wegriss und gegen alle Widerstände die „Stufen“ an der Sieg baute. Die Uni wurde zum Markenkern des Stadtimages aufgebaut und Motor der Stadtentwicklung, als sie sich vom Haardter Berg in die Innenstadt aufmachte, das Untere Schloss zum Campus umwandelte und jetzt ein weiteres Viertel zum Campus Siegen Nord umbaut: Mittlerweile ist die City eine Studentenstadt.
Raimund Hellwig
Das Stadtfest vom 30. August bis 1. September steht im Zeichen des Siegener 800-Jahr-Jubiläums. Unter anderem gibt es Livemusik auf fünf Bühnen, darunter ein Konzert mit dem Sänger Gregor Meyle und Band. Weitere Informationen hier.