Elina Penner, aufgewachsen in einem Dorf nahe Minden, hat nach ihrem Studium in Berlin gelebt. Inzwischen ist sie wieder nach Ostwestfalen zurückgezogen und lebt heute mit ihrer Familie in Petershagen. Sie schreibt unter anderem für den „Spiegel“ und betreibt das Online-Magazin „Hauptstadtmutti“. Foto: Kai Senf
15.11.2024

Streitschrift und Weckruf

In „Migrantenmutti“ schreibt Elina Penner über Elternschaft als Projekt und soziale Ungleichheit – witzig, provokant und manchmal auch bitterböse.

Die „Zeit“-Journalistin Yasmine M’Barek ist voll des Lobes: „Elina Penners Sprache ist genau das, was wir brauchen. Klüger, lustiger, unentbehrlich.“ Vielleicht bedurfte es tatsächlich eines Weckrufs, der Kritikpunkte unmissverständlich beim Namen nennt, meinungsstark – und sprachlich ohne Rücksicht auf Verluste. Penner hat ihn geschrieben. Ihr Essayband „Migrantenmutti“ ist ein Ratgeber, eine Streitschrift der besonderen Art. Penner, 1987 als Sowjetbürgerin geboren, kam als Vierjährige nach Deutschland. Längst assimiliert und mit abgeschlossenem Hochschulstudium, muss sie dennoch immer wieder feststellen, dass ihr Einwandererstatus wie ein Makel an ihr haftet, wie ein Fluch, ein Stigma. Für die „Welt da draußen“, sei sie, wie sie sagt, auf ewig „die Russin“ und werde entsprechend behandelt. Entsprechend sei Migrantin zu sein für sie ein „nicht enden wollender Struggle“.

Zum Alltag der „Migras“ gehöre „das Erklären, das Nachreichen, das Einreichen, das Abstempeln, das Versprechen, das Durcheinanderbringen, das Vergessen, das Nicht-Wissen, das Kontrollieren, das Nachfragen, das Beleidigen“. Aber wer ist es, der für solche Grenzlinien verantwortlich ist? Das sind zum Beispiel die Wutbürger in zunehmender Zahl. Es sind aber auch die Super- und Helikoptereltern, die vermeintlichen „Gutmenschen“, Öko-Enthusiasten, die vom ständigen Selbstoptimierungswahn Zernagten, die „Insta-Moms“, die Opfer von Influencerinnen und Eltern-Ratgebern. Elina Penner hält provokativ und mit spitzer Zunge dagegen, nicht leise, sondern laut und offensiv.

 

Die Autorin zeigt auf, was es heißt, als Russlanddeutsche mit zwei kleinen Kindern in der BRD zu leben und Opfer von Vorurteilen und Ressentiments zu sein. Sie dreht den Spieß um, stellt Chauvinismus bloß, zeigt, wie Alltagsrassismus und Klassismus funktionieren. Sie habe erst als Mutter erfahren, was es wirklich heißt, „migrantisch“ zu sein, schreibt sie. Sichtbar zum Beispiel am Konsumterror, wie er beim Kauf eines Schultornisters zum Ausdruck komme („Vorurteile fangen im Kleiderschrank an und gehen beim Friseurbesuch weiter“). „Man benötigt nicht irgendeine Schultasche, nein, unter deutschen Eltern ist es weit verbreitet, sich auf die Suche nach der perfekten Schultasche zu begeben. „Ich schwöre, über ein halbes Jahr vor der eigentlichen Einschulung beginnen am Wohle deines Kindes interessierte Krähen auf selbiges einzuhacken: ’Hast du schon einen Tornister?, ’Freust du dich?’, ’Dann startet der Ernst des Lebens!’ … Ich mag das ja wirklich gar nicht, wenn Erwachsene Kinder nerven, dann auch noch solche, die nicht die eigenen sind. Sicherlich ist der Wunsch nach Smalltalk menschlich, aber es gab Zeiten, da reichte in Minden und Umgebung ein ’Mmmmmh’, ’Joah’, ’Ne’, ’Ach’ und ’Sag bloß’. Make Smalltalk ostwestfälisch again, bitte. Wir hatten auch drei Monate vor der Einschulung noch keinen sogenannten Ranzen, was bei anderen Eltern mit Einschulkids zu Schnappatmung führte.“

„Lasst Kinder Kinder sein“

Andere Kapitel aus „Migrantenmutti liefern ähnlich schlagende Beispiele. Zum Beispiel die elterliche Panik vor dem TV-Konsum ihrer Sprösslinge oder oft verpöntes und gesellschaftlich geächtetes Essen aus der Mikrowelle. Elina Penners Botschaft lautet: Habt euch nicht so, nehmt euch verdammt noch mal nicht so wichtig, kommt mal runter von eurem hohen Ross, legt mal normale Maßstäbe an. Und lasst Kinder Kinder sein und keine Prinzessin und Prinzen, lasst sie ruhig mal Essen ohne Bio-Stempel zu sich nehmen, auch das werden sie verkraften. Seht lieber zu, dass euer Selbstoptimierungswahn nicht auf eure Kinder abfärbt. „An dem Tag, an dem ich endgültig aufgehört habe, zu etwas dazuzugehören, und begann, mein eigenes Ding aufzubauen, ey, ich sag es euch, an dem Tag war ich frei. Oh, göttlich war das … Es war der Tag, an dem ich ausatmete und beschloss, nie wieder die salzfreien Bio-Brezeln zu kaufen. Ich ging in den Mix-Markt und besorgte Suschki.“


Dieser Beitrag ist zuerst in Heft 5/2024 des WESTFALENSPIEGEL erschienen. Möchten Sie mehr lesen? Gerne senden wir Ihnen zwei kostenlose Ausgaben unseres Magazins zu. Hier geht es zum Schnupperabo.


In „Migrantenmutti“ benutzt Elina Penner Trendvokabular, das nicht zuletzt die Lust der Autorin an der Sprache dokumentiert. „Pointiert“ sei ihre Diktion, wurde geschrieben. Das ist höflich untertrieben. In Wirklichkeit ist ihre Diktion hochexplosiv und giftig. Und erfrischend originell: „Yeah well, ich bin aber in Dorfhausen aufgewachsen, umgeben von ostwestfälischen Stepford Wives, die ’Grüß Mutti’ unironisch als Verabschiedung raushauen.“ Zugleich beruhigt sie die Gemüter: „Prollig bin ich ja meist nur, wenn ich schreibe.“ Damit kein Missverständnis aufkommt: „Migrantenmuttiist trotz des ’schnoddrigen’ Tonfalls ein ernstes, ernst zu nehmendes und, ja, ein wahrhaftiges (und kein kalkuliert trendiges) Buch. Und eben deshalb darf die Autorin ihre Leserschaft – ganz ohne Anbiederung – auch mit „Du“ statt „Sie“ ansprechen. Die Autorin nimmt sich diese Freiheit, auch als Akt der Solidarität.

Walter Gödden, wsp

„Migrantenmutti“ ist, ebenso wie Elina Penners hochgelobter Debütroman „Nachtbeeren“ (2022), im Berliner Aufbau Verlag (208 Seiten. 18 Euro) erschienen.

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