
Tragik und Komik
Dortmund-„Tatort“-Star Jörg Hartmann feiert sein literarisches Debüt mit einem autobiografischen Buch.
Zwei Theater-Greenhorns machen sich auf, um bei der Künstlerischen Leiterin der Berliner Schaubühne vorzusprechen. Einfach so und ohne Voranmeldung. Sie laufen ihr ausgerechnet in dem Augenblick über den Weg, als sie mit ihren Eltern in einem italienischen Restaurant zusammensitzt. Einen unpassenderen Moment gibt es wohl nicht. Doch die Theaterleiterin lässt sich erweichen. Sie lädt die beiden Enthusiasten noch am selben Abend zu einer Probe ein. Drei Stunden hockt man zusammen. Anschließend gibt sie den beiden Eleven, die ihr Glück kaum fassen können, eine Hausaufgabe auf: Sie sollen Goethes „Clavigo“ in der Theaterfassung von 1969 einstudieren. Mit dieser Episode, die der Schauspieler Jörg Hartmann mit einem Kommilitonen erlebt hat, beginnt Hartmann sein autobiografisches Buch „Der Lärm des Lebens“.
Im zweiten Kapitel geht es um etwas ganz anderes, um den Vater des Erzählers. Er befindet sich mit fortgeschrittener Demenz in einer Klinik in Herdecke. Der Autor besucht ihn während der Dreharbeiten zu einer neuen Tatort-Folge. Er ist schockiert. Der Vater, einst eine Sportskanone und weit über die Stadt hinaus bekannter Handballer, ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Als der Erzähler das Krankenzimmer betritt, versuchen die Pflegerinnen gerade, ihn aus dem Bett zu hieven, was ihnen aber nicht gelingt. Als der Vater seinen Sohn erblickt, ändert sich die Szenerie schlagartig. Er steht wie von selbst auf, hat seine Kräfte wie durch ein Wunder wiedergewonnen.
Lebendig, abwechslungsreich und witzig-pointiert

Jörg Hartmann: Der Lärm des Lebens, Rowohlt, 24 Euro Foto: Rowohlt
Zwischen beiden Episoden liegen mehrere Jahrzehnte. Aus dem „Theaterlehrling“ ist ein bekannter Schauspieler geworden. Aber befindet er sich deshalb dauerhaft auf der Sonnenseite des Lebens? Selbstzweifel nagen an ihm. Hätte er sich nicht angesichts der Situation seines Vaters nicht viel früher und mehr um seine Familie kümmern müssen? Wie egoistisch ist sein Schauspielberuf? Entschuldigt er solche Versäumnisse?
Beide Erzählstränge, der Alltag als Schauspieler und das Private, werden in den folgenden zehn Kapiteln in episodenhafter Form weitergesponnen. Der Schauspieler Jörg Hartmann gewährt Einblicke in sein Gefühlsleben und erzählt unverstellt autobiografisch. So lebendig, abwechslungsreich und teilweise witzig-pointiert, dass man das Buch nicht aus der Hand legt. Ein vielteiliges, formal unverbindliches Puzzle, das sich nach und nach vervollständigt. Dessen offene Form die Lektüre aber oft auch zur Herausforderung macht. Auf der anderen Seite lässt die gewählte Komposition Überraschungen, Dissonanzen zu – so wie das wirkliche Leben ja auch nicht immer gradlinig verläuft.
Das lässt uns der Autor immer wieder wissen, etwa in Momenten, in denen er vom politischen Zeitgeschehen regelrecht überrollt wird („9/11“ –Anschläge vom 11. September 2001, Sturm auf das Kapitol, Corona …). Oder wenn sich ihm – häufig im Traum – unerwartet Sequenzen aus dem früheren Familienleben ins Bewusstsein drängen. Sie weisen einen unverkennbaren Ruhrgebiets-Touch auf („Also hömma…“). Zeitweilig betrieben die Hartmanns in Herdecke nebenher eine Pommesbude. Hartmanns Vater, ein Handwerkermeister, verfügte über eine ausgesprochen kommunikative Ader. Im Handballverein war er der wichtigste Mann und zudem politisch engagiert.
Dieser Artikel ist aus Heft 3/2024 des WESTFALENSPIEGEL. Ihnen gefällt, was Sie hier lesen? Gerne senden wir Ihnen im Rahmen unseres Schnupperabos zwei kostenlose Ausgaben unseres Magazins zu. Hier geht es zum Schnupperabo.
Und jetzt ist der Vater sterbenskrank und der Sohn, der den intensiven Wunsch verspürt, bei seinem Tod anwesend zu sein, sitzt in Prag in Dreharbeiten fest. Auch als seine gerade geborene Tochter eine schwere Operation überstehen muss, ist er nicht zur Stelle. Hartmann schreibt: „In jenem Moment hasste ich mal wieder meinen Beruf; ich hasste das Theater, das mich gefangen hielt, mit seinen Zwängen tief in mein Leben und das der Familie eingriff … Ich war ein Theatersoldat, dachte ich, der immer funktioniert hat. Und jetzt wieder funktioniert … Wie bescheuert kann man sein. Weil es um die Kunst geht, deshalb! Weil man sie liebt. Zu allem bereit ist für sie und ohne sie nicht kann. Ach Quatsch. Weil man zu feige ist! Zu feige! Und trotzdem, ich liebe diesen Beruf. Und verfluche ihn zugleich.“
Eine „Achterbahnfahrt“
„Der Lärm des Lebens“ ist ein Buch voller Selbstzweifel. Die nachdenklichen Töne dominieren. Hartmann beschreibt, wie er auf der Schule gehänselt, wie er ständig auf seine blasse Hautfarbe angesprochen wurde. Wie er Rituale entwickelte, um damit seine Flugangst zu besiegen. Mit welcher Befangenheit er Erotisches auf der Bühne darstelle. Er habe sich, lässt er wissen, fürs Theater entschieden, um hierdurch seine Unsicherheit zu überwinden. Ein anderer Beruf? Undenkbar. Mit seinen beiden linken Händen sei er kaum in der Lage, einen Wasserschlauch aufzurollen.
Wir erfahren, dass es ein steiniger, mit Niederlagen gepflasterter Weg war, bis er den Durchbruch bei der Berliner Schaubühne, seinem Ideal eines Theaters, schaffte. Und das ohne den Segen der eingangs erwähnten Künstlerischen Leiterin, die ihn später, ohne mit der Wimper zu zucken, fallen ließ.
Notorische „Spaßbremse“
Hartmann präsentiert sich in „Der Lärm des Lebens“ als Dauer-Gefährdeter, dem Neurosen nicht fremd sind. „Wie lange Menschenkinder brauchen, um flügge zu werden, dachte ich. Bambi konnte schon kurz nach der Geburt auf krummen Beinchen stehen. Mir fällt es bis heute manchmal schwer.“ Von seiner Frau muss er sich sagen lassen: „Traurig, kennst du ja.“ Er sei eine notorische „Spaßbremse“. Ein bisschen wie seine Fernsehrolle als Kommissar Faber, der im Dortmund-„Tatort“ immer so nah am Abgrund wandelt. Hartmanns erstes, literarisch überzeugendes Buch, dessen Entstehung er im Nachspann als „Achterbahnfahrt“ beschreibt, zeichnet das differenzierte Bild einer reflektierten, sensiblen, verletzlichen Person.
Walter Gödden