Unter Wölfen
Schützen oder schießen? Eine einfache Antwort für den Umgang mit dem Wolf gibt es nicht.
Kaum ein anderes Wildtier spaltet die öffentliche Meinung so sehr wie der Wolf. Getötete Schafe, Ziegen oder Ponys befeuern die Forderungen nach Abschüssen von „Problemwölfen“. Doch zugleich genießt „Isegrim“ sowohl in Deutschland als auch in den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union den höchst möglichen Schutzstatus. Der Wolf ist längst auch in Westfalen heimisch geworden. Wie also mit ihm umgehen? Schießen oder schützen?
Die Antwort auf diese Frage ist kompliziert, zeigt ein Besuch im Wolfsgebiet Schermbeck. Die Fahrt zum Treffpunkt dort mit Wolfsberaterin Anja Baum führt vorbei an Pferdekoppeln und grünen Wiesen. Hier und da grasen einige Schafe oder Ziegen entspannt auf einer Weide. Das friedliche Idyll trügt. Denn im Wolfsgebiet rund um Schermbeck ist richtig Dampf im Kessel.
Das Gebiet umfasst 957 Quadratkilometer und erstreckt sich von Rees am Niederrhein bis Dorsten im Kreis Recklinghausen, von Raesfeld im Kreis Borken bis zur Stadt Bottrop. Drumherum gibt es noch eine großzügige „Pufferzone“. Der Wolf ist hier seit 2018 sesshaft. Damals wurde Schermbeck zum ersten Wolfsgebiet in Nordrhein-Westfalen erklärt. Momentan streift ein Rudel durch das Revier, ein Muttertier, die Wölfin mit der Kennung GW954f, auch „Gloria“ genannt, gemeinsam mit ihrem Partner und dem gemeinsamen Nachwuchs. „Das Rudel findet hier sehr gute Bedingungen vor. Es gibt große Wildbestände“, erklärt Anja Baum. Dabei bedient sich der Wolf vor allem bei älteren und kranken Tieren und erfüllt so eine wichtige Aufgabe im Ökosystem.
Keine Angst vor dem Wolf
Baum, die eine von rund 70 Wolfsberaterinnen des Landesamtes Natur, Umwelt und Verbraucherschutz, kurz LANUV, ist, ist in einem Wald in der Nähe des Bottroper Stadtteils Kirchhellen auf Spurensuche. Die 37-Jährige hält auf dem Waldweg Ausschau nach Losungen (Kothaufen), die von einem Wolf stammen könnten. „Wölfe nutzen die Infrastruktur der Menschen. Warum soll sich ein Wolf durchs Dickicht quälen, wenn er bequem über einen Weg laufen kann?“, sagt Baum. Das ist auch der Grund dafür, warum Wölfe auf ihren Streifzügen immer mal wieder auf Straßen oder sogar in Siedlungen gesehen werden.
Es ist ein kühler Frühlingsabend, die Sonne steht schon tief. Im Wald drehen Spaziergänger, Reiter mit ihren Pferden und Radfahrer ihre Feierabendrunden. Angst vor dem Wolf scheint niemand zu haben. Über ihn sprechen mag aber auch keiner. Und wenn doch, dann nur anonym. Die Fronten zwischen Wolfsgegnern und -befürwortern sind verhärtet. Statt Argumenten werden auch schon mal Drohungen ausgetauscht.
Emotionale Diskussion
Das liegt vor allem daran, dass das Schermbecker Rudel trotz des reichlich mit Wild gedeckten Tisches immer wieder auch Tiere reißt, die auf Weiden stehen. Allein in Bottrop hat das LANUV als zuständige Behörde seit 2018 mehr als ein Dutzend Nutztierrisse durch einen Wolf nachgewiesen. Solche Risse rufen Anja Baum und ihre Kollegen auf den Plan. Sie dokumentieren das Geschehen, fotografieren die gerissenen Tiere, sofern diese noch auf der Weide liegen. Wenn möglich, werden Proben genommen, um den Wolf genetisch identifizieren zu können. Außerdem nehmen die Wolfsberater auf, ob die Weidetiere ausreichend gegen einen Angriff des großen Beutegreifers geschützt waren.
Darin liegt einer der Konfliktpunkte. Viele Schäfer müssen nicht nur den Verlust und den Anblick ihrer oft schlimm zugerichteten Tiere verkraften. Sie fühlen sich von den Wolfsberatern auch verdächtigt, nicht ausreichend zum Schutz ihrer Tiere unternommen zu haben. Höhere und stromführende Zäune werden im Wolfsgebiet gefördert. Halter und Züchter von Schafen, Ziegen, Gehegewild und Ponys bekommen einen hundertprozentigen finanziellen Ausgleich für die Anschaffung der entsprechenden Ausrüstung. Auch ein Herdenschutzhund wird bezahlt. Mehr als vier Millionen Euro hat das Land in den Jahren 2020, 2021 und 2022 insgesamt für Maßnahmen zum Schutz vor dem Wolf oder für die Entschädigung nach Rissen ausgegeben.
Seit Beginn des Jahres ist die Landwirtschaftskammer für die Beratung zum Herdenschutz zuständig. Täglich führen die Mitarbeiter zwei bis drei Beratungstermine vor Ort durch und nehmen im Schnitt fünf Gespräche über die Hotline entgegen. Doch trotz Beratung und Förderung greift nicht jeder Tierhalter zu. „Jeder Schäfer will seine Schafe schützen, doch muss der Schutz auch machbar und in den Alltag integrierbar sein“, sagt Ortrun Humpert, Vorsitzende des Schafzuchtverbandes NRW. Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt sie eine Schäferei in Marienmünster im Kreis Höxter. Ihr Betrieb liegt in der Pufferzone des Wolfsgebiets Senne.
Weidetierhaltung vor dem Aus?
In der Regel sind Schäfereien Ein-Mann-Betriebe. Ob man da einen 90 Zentimeter hohen Zaun in zum Teil unwegsamem Gelände um seine Herde aufstellt oder einen 1,20 Meter hohen Zaun, wie zum Schutz vor dem Wolf gefordert, ist ein großer Unterschied. Das Freischneiden der stromführenden Zaunelemente ist zudem wichtig, damit die Zäune einwandfrei funktionieren, stellt aber einen enormen Aufwand dar. Schafzüchter und andere Weidetierhalter fordern von der Politik schon seit längerem, auch den Unterhalt und Arbeitsaufwand von Herdenschutz zu finanzieren. Ähnliche Forderungen kommen vom Naturschutzbund (NABU) Deutschland. Das sei ein wichtiger Schritt, um den oft ohnehin schon förderrechtlich schlechter gestellten Weidebetrieben ein zukunftssicheres Arbeiten zu ermöglichen, heißt es dort. Allerdings war es das auch schon fast mit den Gemeinsamkeiten.
Die Fronten zwischen Wolfsgegnern und -befürwortern seien verhärtet, das Thema emotional aufgeladen, man komme nicht voran, so Ortrun Humpert. Sie betont, selbst keinesfalls grundsätzlich etwas gegen Wölfe zu haben. Auch unter den Schäfern im Land gebe es eine große Bandbreite an Einstellungen gegenüber dem großen Jäger, der im 19. Jahrhundert ausgerottet wurde und Anfang der 2000er Jahre nach Deutschland zurückgekehrt ist. „Wir verteufeln ihn nicht. Der Wolf hat seine Berechtigung. Aber wir wollen auch nicht weniger wert sein als der Wolf“, sagt Humpert.
Lesen Sie auf unserer Sonderseite zum Wolf in Westfalen auch, wie Sie sich verhalten sollten, wenn Ihnen ein Wolf begegnet.
Das Verständnis für den Artenschutz kommt nicht von ungefähr. Es ist eine Aufgabe, die Schäfer wie selbstverständlich betreiben. Humpert etwa züchtet sehr seltene Schafrassen. Außerdem tragen grasende Schafe zur Pflege der Kulturlandschaft bei, sie düngen das Gras auf Deichen und Streuobstwiesen, machen Platz für seltene Pflanzen und Kräuter, die von Insekten angeflogen werden können. Damit sind die wolligen Vierbeiner Landschaftspfleger und Artenschützer zugleich.
„Wir fühlen uns von der Politik im Stich gelassen.“
Dass diese Leistung nicht ausreichend von der Gesellschaft honoriert wird, ärgert Humpert. Etwas mehr als sechs Euro betrage der Stundenlohn eines Schäfers, rechnet sie vor. Auch deshalb gibt es seit Jahren immer weniger Berufsschäfer. „Die wirtschaftliche Unsicherheit ist auch ohne den Wolf schon immens.“ Der Druck durch den Wolf könne nun weitere Schaf- und Weidetierhalter zur Aufgabe zwingen, glaubt sie.
Auch auf einer vom Gahlener Bürgerforum organisierten Veranstaltung in einem Dorstener Gasthof wird das Ende der Weidetierhaltung vielfach heraufbeschworen. Neben dem Bürgerforum, das sich für einen Abschuss der Problemwölfe im Großraum Schermbeck stark macht, sind Gäste unter anderem von der Kreisbauernschaft, dem Schafzuchtverband, der Kreisjägerschaft Wesel und dem Kreispferdezuchtverein Wesel gekommen. Andere Teilnehmer oder Wolfsbefürworter sind nicht eingeladen. Hier sitzen vor allem Menschen, denen der Wolf mehrfach Schaden zugefügt hat.
In welche Richtung sich die Diskussion entwickeln wird, ist bereits klar, bevor das erste Wort gesprochen wurde. Ein Beamer wirft Bilder aufgerissener Tierleiber auf eine Leinwand, während am Platz der Kaffee in Kännchen serviert wird. Die versammelten Tierhalter lassen Dampf ab: „Wir fühlen uns von der Politik im Stich gelassen.“ – „Wir sind nicht gegen den Wolf. Aber im kulturellen Raum und in der Nähe von Siedlungen hat er nichts verloren.“ – „Wir fragen uns: ist die Wolfschutzverordnung zum Schutz vor dem Wolf oder zum Schutz für den Wolf?“– „Die Koexistenz von Wolf und Mensch funktioniert nicht.“ So einige Teilnehmer der Diskussion.
Keine Klarheit durch Wolfsverordnung
Dr. Matthias Kaiser vom LANUV ist derjenige auf dem Podium, dem diese Aussagen, Fragen und Argumente förmlich um die Ohren gehauen werden. Er hat hier einen schweren Stand. Kaiser zeigt Verständnis für den Unmut der Züchter und Tierhalter, macht aber auch deutlich: „Leider sehen wir immer noch zu viele Zäune, die diesen Namen nicht verdienen. 2021 waren nur in zwei Fällen von Nutztier-Rissen im Wolfsgebiet die empfohlenen Herdenschutzmaßnahmen umgesetzt“, so Kaiser.
Doch bei so manchem vorgebrachten Unmut kann auch er nur mit den Schultern zucken. Denn einige Tierhalter können ihre Herden gar nicht schützen. Pferde- und Rinderhalter bekommen keine Förderung. Wie soll ein Rinderhalter seine großen Weiden überhaupt wolfsicher einzäunen? „Da müsste ich ja 25 Kilometer Zaun nachbessern“, sagt einer. Was aber, wenn der Wolf seine Herde aufschreckt und diese ausbüxt, wenn die Rinder auf die Straße laufen und Unfälle verursachen?
Der Tenor in Dorsten ist eindeutig: Die Pferde- und Rinderhalter sowie Schaf- und Ziegenzüchter müssen ihre Herden gegen ein Tier schützen, das sie selbst nicht haben wollen. Und dafür müssen sie auch noch zum Teil bezahlen. „Wenn der Wolf gesellschaftlich gewollt ist, und wenn auch Weidehaltung gesellschaftlich gewollt ist, dann soll die Gesellschaft bitte auch den Schutz unserer Tiere bezahlen“, sagt einer aus dem Publikum und bekommt viel Applaus.
Wildtiere auf dem Speiseplan
Solchen Argumenten lässt sich nur schwer etwas entgegenhalten. Auch ein Abschuss einzelner Wölfe, die regelmäßig Weidetiere reißen, erscheint logisch. Zumal der Erhaltungszustand des Wolfes in Deutschland inzwischen gut ist. Doch wahr ist auch: Die Wölfe in Deutschland ernähren sich einer wissenschaftlichen Untersuchung des Senckenberg-Forschungsinstituts zufolge zu 96 Prozent von Rehen, Rothirschen und Wildschweinen. Mehr als 3500 Kotproben wurden für diese Langzeitstudie auf ihre Bestandteile untersucht. Der Anteil an Nutztieren in der Ernährung der intelligenten Jäger lag demnach bei unter einem Prozent. Die Schlussfolgerung der Studie: Wenn Weidetiere gut geschützt werden und es genug Auswahl unter den Wildtieren gibt, gehen Wölfe nicht die Gefahr ein, mit Elektrozäunen oder Herdenschutzhunden konfrontiert zu werden.
Die Reportage ist aus Heft 3/2022 des WESTFALENSPIEGEL Gerne senden wir Ihnen im Rahmen unseres Probeabos zwei Ausgaben kostenlos zu. Einfach hier klicken.
In NRW ist eine „Entnahme“, also ein Abschuss, des Wolfes, rechtlich ohnehin nur dann möglich, wenn die Ausnahmevoraussetzungen nach § 45 Bundesnaturschutzgesetz erfüllt sind. „Ein Wolf muss sich danach mehrfach gegenüber Menschen auffällig und gegenüber Weidetieren problematisch verhalten haben. Dazu gehört zum Beispiel das mehrfache Überwinden des erhöhten Weidetierschutzes in einem räumlich und zeitlich engen Zusammenhang, ohne dass es alternative Möglichkeiten gibt, weitere Risse zu vermeiden“, teilt das Landesumweltministerium mit. Die Weidetierhalter in Schermbeck sehen diesen Fall längst eingetreten, die Wolfschützer nicht. Man kommt nicht weiter. Eigentlich sollte die neue Wolfsverordnung der zurückgetretenen Umweltministerin Ursula Heinen-Esser für Klarheit sorgen. Doch die Verordnung hinterließ sowohl bei Abschussbefürwortern wie -gegnern nur noch mehr Fragezeichen.
Wolfsberaterin Anja Baum wünscht sich eine Versachlichung der Diskussion, und „dass Wolf und Mensch in friedlicher Koexistenz leben können“. Sie konnte im vergangenen Jahr einige der Schermbecker Wölfe beobachten. Die Tiere hätten einen friedlichen und entspannten Eindruck gemacht, sagt sie. Bei unserer gemeinsamen Erkundungstour im Bottroper Wald haben wir übrigens weder einen Wolf noch eine Spur von ihm gesehen. Allgegenwärtig war der Beutegreifer trotzdem.
Jürgen Bröker/Westfalenspiegel
Mehr zum Wolf in Westfalen erfahren Sie in unserem Dossier.