Urteil mit weitreichenden Folgen
Musikschulen und Orchestern droht ein Fachkräftemangel. Das „Herrenberg-Urteil“ zur Beschäftigung von Honorarkräften hat auch Auswirkungen auf Kunstschulen, Volkshochschulen und Kultureinrichtungen. Es ist ein Thema bei der 13. Westfälischen Kulturkonferenz in Detmold.
Grundsatzurteile der obersten Gerichte sorgen mit Präzedenzfällen für rechtliche Klarheit, so beispielsweise im „Milupa-Urteil“, das 1991 die Produkthaftung von Herstellern betonte. Nun markiert das „Herrenberg-Urteil“ des Bundessozialgerichtes vom 30. Juni 2022 ein klares Umdenken hinsichtlich der Beschäftigungsbedingungen von Musikpädagogen in Deutschland. Das Urteil hat weitreichende Folgen für alle Musikschulen und die Musiklehrkräfte und sorgt darüber hinaus für einen Umbau von Beschäftigungsverhältnissen im gesamten Kulturbereich, also auch bei Volkshochschulen, Sprachschulen, Kunstschulen und Kultureinrichtungen.
Viele Honorarkräfte im Kulturbereich
Jahrzehntelang haben Arbeitgeber im Kultursektor Künstler und Musiker als Freiberufler auf Honorarbasis beschäftigt. Vor allem im Bereich der Musik- und Kunstschulen gab es lange Zeit mehr Honorarkräfte als angestellte Lehrkräfte. Der Grund liegt auf der Hand: Honorarkräfte sind günstiger, zumal freiberuflich professionell arbeitende Kulturschaffende in Deutschland über die Künstlersozialkasse sozialversicherungsrechtlich abgesichert sind. Die Arbeitgeber sparten sich eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsgeld und Sozialversicherungsbeiträge. Die Honorarsätze lagen aufgrund fehlender Tarifverträge außerdem deutlich unter den Stundensätzen angestellter Musiklehrkräfte.
Freiwillig frei oder „vogelfrei“ – in den meisten Fällen hatten Künstler und Musiker keine Wahl: Nur wenige erhielten ein reguläres Anstellungsverhältnis nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD), und wenn doch, dann zumeist als Teilzeitanstellung. Das Urteil des Bundessozialgerichtes basiert auf einem Fall in Herrenberg bei Stuttgart, bei dem ein Musiklehrer auf Honorarbasis an einer Musikschule arbeitete. Die Deutsche Rentenversicherung stellte fest, dass diese Tätigkeit des Lehrers den Kriterien einer abhängigen Beschäftigung entsprach und somit sozialversicherungspflichtig war. Das Gericht bestätigte diese Einschätzung und konstatierte, dass die Arbeitsbedingungen an Musikschulen, etwa durch die fehlende unternehmerische Freiheit der Musikpädagogen, keine Voraussetzung für eine echte selbstständige Tätigkeit bieten. Honorarkräfte seien fest in die Arbeitsabläufe eingebunden, deshalb als scheinselbstständig einzustufen und grundsätzlich sozialversicherungspflichtig zu beschäftigen als angestellte Lehrkräfte. Für viele Honorarkräfte verbessert sich also die wirtschaftliche Situation durch eine Festanstellung, selbst wenn diese häufig in Teilzeit oder nur als Minijob angeboten wird.
Hohe Kosten für Kultureinrichtungen
Die Umstrukturierung bedeutet indes eine massive finanzielle Mehrbelastung der Träger von Musikschulen und Kultureinrichtungen, auf der öffentlichen Seite die Kommunen, auf der privaten Seite Unternehmer oder Vereine: „Für die Musikschulen bedeutet die Umwandlung der Honorarbeschäftigungen in Anstellungen einen echten Kraftakt. Sie ist nicht nur mit enormen finanziellen, sondern auch kommunikativen Herausforderungen verbunden. Aber insgesamt sehen wir diese Entwicklung als große Chance für die Musikschulen. Die Lehrkräfte werden (endlich) sozial abgesichert und besser ins Kollegium der Musikschule eingebunden“, erklärt Annegret Schwiening, Geschäftsführerin des Landesverbandes der Musikschulen in NRW.
Für viele Musiker ist die freie künstlerische Tätigkeit immer schon ein wesentlicher Bestandteil des Berufsalltags gewesen. Stefan Simon, Bezirksvorstand des Deutschen Tonkünstlerverbandes in Ostwestfalen-Lippe, weist darauf hin: „Viele wollen selbstbestimmt arbeiten und nicht in die betrieblichen Abläufe einer Musikschule mit vielen nicht-künstlerischen Tätigkeiten eingebunden sein. Gleichwohl bedroht die eventuelle Scheinselbständigkeit Musikerinnen und Musiker deutschlandweit in ihrer beruflichen Existenz. Letzten Endes muss einfach mehr Geld ins System.“ Nicht selten wünschen sich Künstler und Musiker Abwechslung im Beruf, sie wollen Monotonie im Arbeitsalltag vermeiden und künstlerisch frei arbeiten. Hier entsteht ein weiterer Streitfall: Haben Orchester in der Vergangenheit freie Musiker als „Einspringer“ und Orchesteraushilfen auf Honorarbasis gebucht, etwa im Krankheitsfall eines Orchestermitgliedes oder bei besonderen Projekten, so müssen freie Musiker jetzt für jeden einzelnen Einsatz kurzfristig angestellt werden.
Massiver Fachkräftemangel
Eine komplizierte Gemengelage also, die noch dadurch verschärft wird, dass seit Jahren schon im Bereich der Musikschulen und der allgemeinbildenden Schulen ein massiver Lehrkräftemangel existiert, wie Annegret Schwiening betont: „Der Fachkräftemangel ist prozentual vergleichbar groß mit dem Fachkräftemangel an allgemeinbildenden Schulen. Bestimmte Fachbereiche wie die Elementare Musikpädagogik sind stärker betroffen als andere, aber die Musikschulen brauchen aktuell und zukünftig Lehrkräfte für alle Bereiche der Musikschule. Allein aufgrund von Verrentungen werden in zehn Jahren über 2300 Stellen an den öffentlichen Musikschulen in NRW zu besetzen sein.“
Dieser Beitrag ist zuerst in Heft 5/2024 des WESTFALENSPIEGEL erschienen. Möchten Sie mehr lesen? Gerne senden wir Ihnen zwei kostenlose Ausgaben unseres Magazins zu. Hier geht es zum Schnupperabo.
Eine ähnliche Situation zeichnet sich bei den 129 Berufsorchestern in Deutschland ab, die mit knapp 9800 Stellen zu den wichtigsten Arbeitgebern für Musiker zählen: „Bis etwa zum Jahr 2030 gibt es in Orchestern deutlich mehr Verrentungen als noch vor zehn Jahren“, sagt der Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung „unisono“, Gerald Mertens: „Knapp 50 Prozent aller Berufsorchester haben laut unserer bundesweiten Umfrage grundsätzliche Probleme, ihre Stellen zeitnah zu besetzen“. Simon Degenkolbe, Solo-Klarinettist des Sinfonieorchesters Münster (s. Porträt S. 44), betont, wie wichtig der Kreislauf einer guten Musikausbildung sei. Nur wenn in den Kitas, Schulen und in den Musikschulen Kinder und Jugendliche eine fundierte musikalische Ausbildung erhielten, könnte die Zahl von Musikstudierenden aus Deutschland langfristig steigen und ein Fachkräftemangel vermieden werden. Sonst wird es irgendwann still in den Musikschulen und Orchestergräben.
Matthias Schröder
Das Herrenberg-Urteil und seine Folgen ist auch eins der Themen auf der 13. Westfälischen Kulturkonferenz am 8. November im Hangar 21 in Detmold. Lesen Sie mehr zum Programm hier.