Das Deutsche Rote Kreuz ist einer der wichtigsten Anbieter freiwilliger sozialer Dienste. Foto: Jörg F. Müller/DRK
25.05.2023

Verschiedene Positionen zum Pflichtjahr

In der Diskussion um ein gesellschaftliches Pflichtjahr für alle jungen Menschen gibt es unterschiedliche Meinungen. Wir haben hier einige zusammengestellt:

Die CDU hat auf ihrem Bundesparteitag im vergangenen Herbst ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr beschlossen. Dabei geht es der CDU um Folgendes: „Ein ,Gewinn für die Gesellschaft’ soll das Gesellschaftsjahr sein, Verständnis füreinander wecken, Erfahrungen und Erlebnisse ermöglichen, den Zusammenhalt fördern. Denn wer sich für die Gemeinschaft einsetzt, lernt viel über andere Menschen und unsere Gesellschaft. Das dient der eigenen Entwicklung genauso, wie der Hilfe anderer. So ist das Jahr eine Chance – vor allem für die jüngere Generation. Sie erhält nach der Schulzeit Orientierung für ihren künftigen Weg.“ Dabei setzt sich die Partei für eine einheitliche Regelung in ganz Deutschland ein. Die dazu notwendigen Änderungen im Grundgesetz sollen in den kommenden Jahren auf den Weg gebracht werden, heißt es in einer Mitteilung der Partei weiter.

Die Grünen in NRW stehen den Plänen skeptisch gegenüber. Der Landesvorsitzende der Partei, Tim Achtermeyer, sagt gegenüber dem WESTFALENSPIEGEL: „Es ist gut, dass wir uns Gedanken zum gesellschaftlichen Zusammenhalt machen. Die Antwort eines verpflichtenden sozialen Jahres für junge Menschen überzeugt mich allerdings nicht, denn es wälzt die Verantwortung dafür auf eine Generation ab. Jugendliche und junge Erwachsene mussten in der Corona-Pandemie ohnehin schon auf viel verzichten und Verantwortung übernehmen, um ihre Mitmenschen zu schützen. Zum Erwachsenwerden gehört auch, einfach mal jung und frei sein zu dürfen. Der Eingriff in die Entfaltungsmöglichkeit junger Menschen durch ein soziales Pflichtjahr ist meiner Meinung nach nicht verhältnismäßig.“

„Nicht fair, wenn der Staat über ein Lebensjahr verfügt“

Aus Sicht der NRWFDP wäre ein allgemeiner Pflichtdienst ein schwerer Freiheitseingriff in das Leben junger Menschen. Auch ökonomisch wäre es nicht sinnvoll, junge Menschen ein Jahr von Ausbildung und qualifiziertem Beruf abzuhalten. Im Pflichtjahr könnten sie nur angelernte Hilfstätigkeiten übernehmen und beispielsweise keine Pflegefachkräfte ersetzen. Zudem stellt sich unter dem Aspekt der Fairness die Frage, warum die Idee des sozialen Jahres nur an junge Menschen gerichtet wird. Viele von ihnen engagieren sich bereits, z.B. über das Freiwillige Soziale und Ökologische Jahr. Außerdem haben sie durch die Einschränkungen während der Pandemie bereits Zeit verloren. Da wäre es aus Sicht der Freien Demokraten nicht fair, wenn der Staat über ein Lebensjahr verfügt.

Lena Teschlade, sozialpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Landtag NRW, sagt: „Ein soziales Pflichtjahr sehen wir sehr skeptisch. Freiwilliges Engagement ist ein wichtiger Baustein des sozialen Miteinanders. Die Arbeit etwa in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung oder in Projekten für obdachlose Menschen kann einen großen und langfristigen Mehrwert für die eigene Persönlichkeit haben. Auch im späteren Lebensverlauf ist dies gewinnbringend und die Möglichkeit sollte jedem offen stehen. Ein soziales Pflichtjahr ist jedoch ein weitreichender Einschnitt in die Freiheit junger Menschen. Wir setzen auf Freiwilligkeit. Es gilt, das freiwillige soziale Engagement unabhängig vom Alter weiter zu fördern.“

Die Lebenshilfe NRW, eine Organisation die sich um die Betreuung von Menschen mit Behinderung kümmert, sagt gegenüber dem WESTFALENSPIEGEL: „Eine Pflichtjahr befürworten wir nicht. Auch wenn sich der Gedanke zunächst positiv anhört, halten wir ein freiwilliges Engagement für sinnvoller. Denn wir wünschen uns für die Menschen mit Behinderung auch ein Wunsch- und Wahlrecht in vielen Bereichen ihres Lebens. Da widerspricht es dann doch ein wenig, auf dieser Seite ein Pflichtjahr für soziales Engagement zu fordern. Wir würden uns wieder mehr freiwilliges gesellschaftliches Engagement – ich in Vorständen – wünsche. Ein Freiwilligendienst kann durchaus helfen, gerade junge Menschen für eine Tätigkeit im sozialen Beriech zu begeistern – gerade wenn Sie nach der Schule vielleicht noch keine genaue Vorstellung haben, was sie einmal machen möchten. Wir haben immer wieder solche Fälle erlebt, in denen junge Menschen Ausbildungen oder auch Studienfächer in diese Richtung belegt haben. Ob jedoch ein Pflichtjahr dazu beitragen würde, die Lücke der fehlenden Fachkräfte im Bereich der Eingliederungshilfe zu füllen, bezweifle ich. Hier spielen andere Faktoren eine bedeutendere Rolle.

Investitionen statt Kürzungen

Das Deutsche Rote Kreuz äußert sich wie folgt: Die Bundesregierung hat angekündigt, die Mittel für Freiwilligendienste aufgrund der angespannten Haushaltslage zu reduzieren. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) kritisiert diese Entscheidung und empfiehlt stattdessen Investitionen von rund vier Milliarden Euro, um die Freiwilligendienste zu stärken. „Es erscheint paradox, dass ständig Diskussionen um eine Pflichtzeit oder ein Gesellschaftsjahr aufkommen, während die bestehenden Freiwilligenprogramme unter Druck geraten. Wir sollten die vorhandenen Potentiale der Freiwilligendienste besser nutzen und diesen Bereich stärken“, sagt DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt. Und weiter: „Freiwilligendienste stärken das Miteinander im Gemeinwesen, helfen dabei, junge Menschen an eine Verantwortungsübernahme für die Gesellschaft heranzuführen und fördern Zusammenhalt, Integration und Demokratie“, so Hasselfeldt. „Die bestehenden Programme haben bei relativ geringen Kosten eine hohe gesellschaftliche Wirkung.”

Die Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland, Annette Kurschus, kann dem Pflichtjahr „viel abgewinnen“, wie sie in einem Interview mit der Presseagentur epd sagte. Es sei in mancher Hinsicht ein sehr reizvoller und positiver Gedanke, den weiterzuverfolgen sich lohne. „Nach meiner Wahrnehmung war der Zivildienst oder ist ein freiwilliges soziales Jahr für die allermeisten eine kostbare Zeit mit unerwarteten Erfahrungen, die sie im Rückblick nicht missen möchten. Eine solche Zeit kann ein großer persönlicher Erfahrungsschatz für die Einzelnen sein, von dem sie unter Umständen ihr ganzes Leben lang profitieren“, so Kurschus in dem Interview aus dem vergangenen Jahr. Ein solches Engagement könne auch für die Gesellschaft belebend und bereichernd sein. Kurschus ist es allerdings wichtig, dass der Dienst nicht auf die Pflege beschränkt ist. „Es sollte selbstverständlich niemand zum Dienst in einem Altenheim gezwungen werden. Aber wer keine Lust hat, bei der Pflege von Menschen zu helfen, hat vielleicht Lust, einen Garten zu pflegen oder einen Wald aufzuräumen.“

Stimmen zusammengetragen von Jürgen Bröker, wsp

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