„Vielfältig, facettenreich, lebendig“
Ein ganzes Jahr lang feiert Deutschland die Vielfalt und Bedeutung jüdischen Lebens. Anlass ist ein römisches Gesetz aus dem Jahr 321.
Im 4. Jahrhundert erhält Kaiser Konstantin eine Anfrage aus Köln, damals noch Colonia Claudia Ara Agrippinensium oder kurz Colonia Agrippina. Der Stadtrat aus der niedergermanischen Provinz bat den Kaiser im fernen Rom darum, Juden in die Stadtverwaltung und den Rat (Kurie) aufnehmen zu dürfen, vermutlich um sie an der Finanzierung bestimmter Projekte beteiligen zu können. Und so erlässt Kaiser Konstantin am 11. Dezember 321 ein weitreichendes Edikt: Künftig konnten auch Juden in Ämter der Kurie und der Stadtverwaltung berufen werden. Dieses Gesetz gilt als der älteste Beleg jüdischen Lebens nördlich der Alpen. Eine frühmittelalterliche Handschrift dieser Urkunde befindet sich heute im Vatikan.
Das Dekret ist Anlass zum Feiern und Erinnern. Nach dem bundesweiten Auftakt des deutsch-jüdischen Festjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ Ende Februar zeigen in den folgenden Monaten zahlreiche Veranstaltungen, Ausstellungen und Projekte die Bedeutung der jüdischen Geschichte und Kultur und die Vielfalt des gegenwärtigen jüdischen Lebens in Deutschland. „Ob in der Philosophie, in der Literatur, Malerei und Musik, in der Wissenschaft, der Medizin, in der Wirtschaft, Juden haben unsere Geschichte mitgeschrieben und -geprägt und unsere Kultur leuchten lassen“, so Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Eröffnungsrede. Das Judentum habe entscheidend zum Aufbruch Deutschlands in die Moderne beigetragen. Als Beispiel nannte er Moses Mendelssohn (1729 – 1786), den Wegbereiter der „jüdischen Aufklärung“.
„Dieses besondere Jubiläumsjahr bietet die Chance, noch immer bestehende Vorurteile gegen Jüdinnen und Juden abzubauen“, erklärte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet. In Nordrhein-Westfalen haben die beiden Landschaftsverbände Rheinland (LVR) und Westfalen-Lippe (LWL) zusammen mit dem in Köln ansässigen Verein „321 – 2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ ein umfangreiches Programm zusammengestellt, um so deutliche Zeichen zu setzen und Position zu beziehen. „Gerade in Zeiten eines wieder wachsenden Antisemitismus ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass jüdisches Leben über viele Jahrhunderte hinweg die Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Deutschland bereichert hat“, macht LWL-Direktor Matthias Löb deutlich.
Wissen und Wohlstand für mittelalterliche Städte
Schon immer lebten Juden in Deutschland als religiöse Minderheit. Sie hatten sich etabliert, erhielten sich aber ihre eigene Kultur innerhalb der christlichen Städte. Ihren Lebensunterhalt verdienten sich Juden in erster Linie als Kaufleute. Sie waren wichtige Lieferanten für fremde Waren und Luxusartikel, hatten sie doch aufgrund ihrer ursprünglichen Herkunft und ihrer Sprachkenntnisse oft enge Verbindungen zum Orient. Und so brachten sie nicht nur Wohlstand, sondern auch Wissen in die mittelalterlichen Bischofs- und Reichsstädte. Entlang der großen Handelsrouten entstanden ab dem 10. Jahrhundert wie in Worms, Mainz und Speyer wichtige Gelehrtenschulen.
Die dokumentierte Geschichte der Juden in Westfalen beginnt im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts: Am 18. Januar 1074 gewährte Heinrich IV. Juden das Privileg der Zollfreiheit an einigen namentlich aufgeführten Orten, darunter Dortmund, wie Diethard Aschoff, der als Historiker und Honorarprofessor an der Universität Münster viele Jahre zur Geschichte der Juden in Westfalen geforscht hat, deutlich macht. Durch repressive Maßnahmen war es Juden seit dem Mittelalter verboten, Land zu erwerben oder ein Handwerk auszuüben. So blieb ihnen für den Lebensunterhalt neben dem Handel vor allem die Pfandleihe oder die Kreditvergabe. Da es Christen nach kirchlichem Recht bis ins 15. Jahrhundert hinein verboten war, Geld gegen Zinsen zu verleihen, waren Juden als Bankiers überaus erfolgreich. Das allerdings brachte ihnen viel Neid und Missgunst ein. Sie wurden verdächtigt, Christen zu übervorteilen und ihren Unterhalt auf unredliche Weise zu bestreiten.
Dortmund gilt als älteste jüdische Gemeinde in Westfalen
Im 11. Jahrhundert erlebte das Judentum auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands eine gewisse Blütezeit. In den Bischofs- und Reichsstädten waren Juden gern gesehen, schließlich brachten sie durch ihren Handel die mittelalterlichen Städte wirtschaftlich und kulturell voran. Doch mit dem Ersten Kreuzzug änderte sich ihre Situation ab 1096 dramatisch, Juden wurden erstmals Opfer flächendeckender systematischer Gewalt. Fanatisierte Kreuzfahrer plünderten ihre Gemeinden, ermordeten ihre Mitglieder oder zwangen sie zur Taufe. Tausende von Juden, die es ablehnten, zum Christentum überzutreten, wurden ermordet oder nahmen sich selbst das Leben. Wie der aus Köln nach Dortmund geflohene Jude Mar Schemarja, der sich nicht taufen lassen wollte und angesichts der offensichtlich drohenden Zwangskonversion seine Familie tötete und sich anschließend selbst das Leben nehmen wollte. Die Selbsttötung schlug fehl, er wurde „von fanatisierten Dortmunder Bürgern schließlich lebendig begraben“, so Diethard Aschoff.
Dortmund gilt als älteste jüdische Gemeinde in Westfalen. Die Gemeinde verfügte über eine Synagoge, einen Begräbnisplatz und ein Ritualbad (Mikwe). Weitere mittelalterliche Gemeinden sind in Münster, Minden, Bochum, Hamm, Iserlohn, Kamen, Lippstadt, Rüthen, Siegen, Soest und Unna nachweisbar. „Die neu ins Land kommenden Juden waren zumeist Kaufleute. Einigen von ihnen, wie Gottschalk von Recklinghausen, Moses von Köln oder Leo von Münster, gelang es, das Netz ihrer Geschäftsbeziehungen über beträchtliche Teile des heutigen Nordrhein-Westfalen und der im Westen anschließenden niederländischen Provinz Overijssel zu spannen“, erläutert Aschoff.
In der Folgezeit wechselten sich Phasen friedlichen Zusammenlebens mit massiven Übergriffen auf die jüdischen Mitmenschen ab. Auch wenn die geistlichen und weltlichen Herrscher deren Kenntnisse in Handel und Geldgeschäften durchaus für sich zu nutzen wussten, überwogen die Vorbehalte gegenüber der jüdischen Minderheit. Juden wurden angeklagt, sogenannte „satanische“ Verbrechen wie rituelle Christenmorde, Hostienschändung oder Blasphemie begangen zu haben. Als im 14. Jahrhundert die Pest in Eupopa ausbrach, jene damals rätselhafte Krankheit mit hohem Fieber und merkwürdigen Beulen am ganzen Körper, waren die Schuldigen schnell gefunden.
Verfolgung bei Pestpogromen
Christen bezichtigten ihre jüdischen Nachbarn als Brunnenvergifter, die so für den „Schwarzen Tod“ verantwortlich waren. Skeptiker bemerkten zwar, dass auch die Juden an der Pest erkrankten und starben, konnten aber nicht viel bewirken. Tausende Juden wurden bei den sogenannten Pestpogromen verfolgt, vertrieben oder ermordet, „entweder wegen ihrer außerordentlich großen Reichtümer, die Viele, sowohl die Adligen und andere, Arme und Bedürftige, wie auch die Schuldner der Juden an sich zu reißen suchten“, führte der westfälische Dominikaner Heinrich von Herford bereits damals unmissverständlich die eigentlichen Beweggründe auf, wie Prof. Peter Johanek im „Historischen Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe“ dokumentiert.
Für den Anfang des 15. Jahrhunderts beobachtet Aschoff zwar wieder einen Aufschwung jüdischen Lebens in Westfalen, doch schon bald sollten neue Rückschläge folgen. Ab dem 15. Jahrhundert lebten Juden oft in eigenen abgegrenzten Wohnvierteln und mussten sich in der Kleidung von Christen z.B. mittels eines sogenannten Judenhuts unterscheiden. Das machte ihre Verfolgung und Vertreibung noch einfacher. Ohne Grundbesitz, ohne Bürgerrechte, meist nur kurzfristig geduldet, Ausbeutungs- und Streitobjekt zwischen Kaiser, Fürsten und Städten, von den Zünften gefürchtet, von kirchlicher Seite mit höchstem Misstrauen betrachtet, lebten die Juden fast ausschließlich von der ebenso risikoreichen wie verachteten Geldleihe.
Handwerkliche Berufe durften sie nicht ausüben, und so blieb ihnen noch der Trödel- und der Viehhandel zwischen Stadt und Umland. Mit den Bauern in Westfalen und anderen Regionen Norddeutschlands wurde dabei niederdeutsch gesprochen. „Die sogenannte Viehhändlersprache stellt ein Gemisch aus Plattdeutsch und Jiddisch dar. Viele ihrer Begriffe waren auch in der nichtjüdischen Bevölkerung gebräuchlich“, wie die Historikerin Rita Schlaumann-Overmeyer vom Institut für Vergleichende Städtegeschichte der WWU Münster in ihrem Beitrag „Jüdisches Leben“ feststellt.
1871 werden Juden zu gleichberechtigten Bürgern
Erst mit der Reichsgründung 1871 wurden Juden in Deutschland zu gleichberechtigten Bürgern. Juden konnten nun ohne Einschränkungen Eigentum bilden und in den Städten Immobilien erwerben. Sie konnten jetzt erstmals auch handwerkliche Berufe ergreifen, und vielen gelang der wirtschaftliche Erfolg und damit verbunden der soziale Aufstieg. Trotz der zunehmenden antisemitischen Hetze rechter Parteien war die Integration in den meisten Städten gelungen. Christliche Pfarrer nahmen wie selbstverständlich an der Einweihung von Synagogen teil, jüdische Häuser waren zur Fronleichnamsprozession geschmückt, in einigen Dörfern konnten Juden sogar Schützenkönig werden. All das brach innerhalb weniger Jahre in sich zusammen. Zunächst schleichend, dann zunehmend offen und aggressiv führte der beständig wachsende Antisemitismus zur Ausgrenzung und Verfolgung und während der nationalsozialistischen Diktatur zwischen 1933 und 1945 zur systematischen Ermordung von rund sechs Millionen europäischer Juden.
Wenige Wochen nach Kriegsende kehrten auch in Westfalen einige Überlebende in ihre Heimatorte zurück in der Hoffnung, hier Familienangehörige zu treffen oder wenigstens eine Nachricht zu erhalten. Die meisten warteten vergebens.
Ab Mitte der 1950er Jahre entstanden in Deutschland die ersten Synagogenneubauten seit 1933. Viele jüdische Gemeinden bestanden bis in die 1990er Jahre nur aus wenigen Mitgliedern. Das änderte sich mit den Zuwanderern aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. „Welch unermessliches Glück für unser Land“, so Steinmeier in seiner Festrede. Heute sei jüdisches Leben hierzulande „vielfältig, facettenreich, lebendig, voller Schwung“. Auch in Westfalen gibt es wieder ein lebendiges jüdisches Gemeindeleben. Eine gute Basis für die Zukunft.
Klaudia Sluka
Der Beitrag erschien zuerst in Heft 02/2021 des WESTFALENSPIEGEL. Gerne senden wir Ihnen zwei kostenlose Ausgaben des Magazins im Rahmen unseres Probeabos zu.
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