Von Massel und Maloche
Der Historiker Gisbert Strotdrees erinnert in seinem neuen Buch an das jüdische Landleben in Westfalen. Im Interview spricht der Historiker und Journalist über eine jüdische Schützenkönigin aus Schermbeck, Ausgrenzung und Verfolgung und über das „Kibbuz Westerberg“.
Herr Strotdrees, bei den Oktoberfesten wird allerorts Dirndl getragen. Was haben die Söhne einer Landjudenfamilie aus Westfalen damit zu tun?
Man kann sagen: Das Dirndl ist eine westfälische Erfindung – von zwei jungen Leuten aus Bielefeld und Geseke, Moritz Wallach und Julius Wallach. Sie sind Nachkommen von Landjuden und haben in München ein Textilgeschäft aufgebaut. Um 1900 entdeckten sie in Tirol ein Trachtenkostüm und entwickelten es mit einer Mitarbeiterin zum Dirndl weiter. Dieses Kleidungsstück gab es so vorher noch nicht und es wurde schnell ein großer Erfolg.
Die Geschichte ist eine von vielen aus Ihrem Buch über das jüdische Landleben in Westfalen. Warum dieses Thema?
Wenn wir über Jüdinnen und Juden in Deutschland reden, denken wir an Namen wie Albert Einstein, Hannah Arendt und Heinrich Heine oder an die jüdischen Gemeinden in Berlin, Frankfurt, Köln und anderen großen Städten. Die jüdischen Gemeinden auf dem Land sind dagegen aus der Erinnerung weitgehend verschwunden. Diese Lebensform wurde im Nationalsozialismus vollständig zerstört. Nur sehr wenige überlebende Jüdinnen und Juden haben sich nach 1945 wieder im ländlichen Raum niedergelassen. Jüdisches Leben heute ist fast durchgängig städtisches Leben.
Wie sah früher der Alltag der Jüdinnen und Juden in Westfalen aus?
Vor der Gründung der preußischen Provinz Westfalen 1815 war der überwiegende Teil der jüdischen Bevölkerung kleinstädtisch-ländlich situiert. Die Jüdinnen und Juden haben vor allem Kleinhandel betrieben – mit Kurzwaren, Textilien, Getreide, einige auch mit Pferden und Vieh. Landwirtschaft und Handwerk in den christlichen Zünften waren ihnen untersagt. Zu den Ausnahmen gehörte das Schlachter- und Metzgerhandwerk. Von Trödel- und Kleinhandel zu leben, bedeutete für viele eine prekäre Existenz. Andererseits gelang einigen wenigen der soziale Aufstieg, vor allem durch den Handel mit Geld – sie haben Kredite gegeben, zum Teil sogar für Fürsten und Bischöfe.
Was änderte sich nach 1815?
Wir haben im 19. Jahrhundert einen langen Weg zur rechtlichen Gleichstellung der Jüdinnen und Juden. Die Universitäten öffneten sich für sie, es gab immer mehr Möglichkeiten des gesellschaftlichen Aufstiegs, und die nutzten auch viele und wurden etwa Ärzte, Tierärzte oder Rechtsanwälte. Es gab auffallend viele Selbstständige. Typisch auf dem Land waren Viehhändler, oft verbunden mit einem Fleischereibetrieb. Häufig wurde unter dem selben Dach auch mit Textilien oder Kleinwaren gehandelt. Im 19. Jahrhundert entstanden in Westfalen auch einzelne landwirtschaftliche Betriebe im Eigentum jüdischer Familien.
Welche Formen von Judenfeindlichkeit gab es?
Die Judenfeindlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte Westfalens. So zerstörte die christliche Mehrheit vor und in der Pestwelle alle jüdischen Gemeinden in Westfalen. Männer, Frauen und Kinder wurden niedergemetzelt. Bis ins 19. Jahrhundert flackert die religiös und wirtschaftlich bedingte Judenfeindschaft immer wieder auf. Seit den 1870er Jahren setzt sich dann der rassisch aufgeladene Antisemitismus durch.
NS-Zeit war eine Zäsur
Eine schreckliche Zäsur für die jüdische Bevölkerung war die NS-Zeit. In Ihrem Buch schildern Sie Beispiele für Diskriminierung, Verfolgung und Flucht, etwa die Biografie von Paula Adelsheimer …
Ja, ich versuche die Gesamtentwicklung der brutalen Ausgrenzung und Gewalt darzustellen – am Beispiel einzelner Orte oder Personen wie eben Paula Adelsheimer aus Schermbeck. Sie wird dort 1929 zur Schützenkönigin erwählt und im Dorf gefeiert – eine besondere Ehre. Nur wenige Jahre später wird sie im selben Ort brutal angefeindet. 1939 flieht sie mit ihren Eltern nach Berlin. Dort wird Paula Adelsheimer 1943 inhaftiert, deportiert und in Auschwitz-Birkenau umgebracht.
Eine erstaunliche Geschichte gibt es aus einer Bauerschaft bei Westerkappeln. Was hat es mit dem „Kibbuz Westerbeck“ auf sich?
Das war ein Bauernhof, der seit 1932 einem Viehhändler aus Osnabrück gehörte. Er hat ihn an einen jüdischen Jugendverband verpachtet, der dort eine „Hachschara“, eine landwirtschaftliche Lehrstätte, eröffnet hat. Hundert Jugendliche absolvierten dort eine Ausbildung. Mit dem Zertifikat konnten sie in das britische Mandatsgebiet Palästina auswandern. Bis 1938 duldete das NS-Regime diesen Hof, denn es zielte darauf ab, möglichst viele Juden zum Auswandern zu bewegen. Das Beispiel zeigt aber auch: Die Jüdinnen und Juden waren nicht nur passive Opfer, sondern haben selbst bestimmt, wer sie sein wollten. In Westerkappeln haben sie einen Raum der Selbstbehauptung geschaffen – und einen Weg zum Überleben gefunden.
Dieser Beitrag ist zuerst in Heft 5/2024 des WESTFALENSPIEGEL erschienen. Möchten Sie mehr lesen? Gerne senden wir Ihnen zwei kostenlose Ausgaben unseres Magazins zu. Hier geht es zum Schnupperabo.
Wie hat man sich nach 1945 in Westfalen-Lippe an das jüdische Landleben erinnert?
Auch das ist ein trübes, beschämendes Kapitel. Wir haben keine Region in Deutschland, in der nach 1945 so viele Synagogen abgerissen wurden, wie in Nordrhein-Westfalen. Viele auch wurden „umgenutzt“ als Möbelgeschäft, Lotto-Annahmestelle, Heißmangel, Kino und Diskothek. Bei Kirchen hätte es einen Aufschrei gegeben. In Bielefeld wurde der Ostwestfalendamm über einen jahrhundertealten jüdischen Friedhof gebaut. Die Judenverfolgung war in den Nachkriegsjahrzehnten ein riesiges Tabu. Die Erinnerungskultur, die wir heute so nennen, ist erst seit Ende der 1970 Jahre allmählich entstanden.
Welche sprachlichen Spuren hat die jüdische Landbevölkerung hinterlassen?
Dafür gibt es viele Beispiele, die wir heute kaum mehr wahrnehmen. Das Wort Kaff für ein Dorf etwa stammt aus dem „Jüdischdeutschen“, wie es der Sprachforscher Werner Weinberg genannt hat. Diese Alltagssprache ist auf den Viehmärkten, Schlachthöfen und Handelsplätzen entstanden und wurde in Westfalen gesprochen. Andere Wörter sind Massel für Glück, Maloche, Zosse, betucht, Moos für Geld oder lau für umsonst. Viele ordnen diese Wörter als plattdeutsch ein. Aber ihre Wurzeln liegen im Jüdischdeutschen.
Interview: Martin Zehren, wsp
Gisbert Strotdrees Jahrgang 1960, ist auf einem Bauernhof in Harsewinkel aufgewachsen und arbeitet seit vielen Jahren als Redakteur und Historiker beim „Wochenblatt für Landwirtschaft und Landleben“ in Münster, wo viele seiner Texte über das jüdische Landleben in Westfalen zuerst erschienen sind. Sein Buch „Jüdisches Landleben. Vergessene Welten in Westfalen“ ist im Landwirtschaftsverlag Münster (180 Seiten) zum Preis von 24 Euro erschienen. Er wurde dafür kürzlich mit dem Geschichtspreis des Kreisheimat- und Geschichtsvereins Beckum-Warendorf ausgezeichnet.