Bergmann für ein paar Stunden: Im Erlebnisbergwerk Recklinghausen können die Besucher viele Maschinen selbst ausprobieren. Foto: Jürgen Bröker
21.12.2021

Von wegen Schicht im Schacht

Der deutsche Steinkohlenbergbau ist Geschichte. Doch in Westfalen gibt es noch viele Orte, die lebendig an Kumpel und Kohle erinnern. Eine Spurensuche.

Für einen kurzen Moment hat der neunjährige John ganz vergessen, dass er nur 17 und nicht mehr als 1000 Meter unter der Erde ist. „Wie wird denn hier die Kohle abgebaut und wie lange arbeitet ihr hier?“, fragt er Paul Schenkel. Der ehemalige Bergmann muss schmunzeln. „Hier, mein Junge, wird gar nichts abgebaut. Das ist ein Museum“, sagt Schenkel.

Es ist ein Dienstagnachmittag im Deutschen Bergbau-Museum in Bochum. Hier beginnt unsere Reise auf den Spuren des Steinkohlenbergbaus im westfälischen Ruhrgebiet. Ein Jahr, nachdem die letzten Tonnen Kohle auf der Zeche Prosper Haniel in Bottrop gefördert wurden.

Ehemalige Bergleute berichten im Bergbau-Museum in Bochum aus ihrem Alltag. John (vorne rechts) hört aufmerksam zu. Foto: Jürgen Bröker

Ehemalige Bergleute berichten im Bergbau-Museum in Bochum aus ihrem Alltag. John (vorne rechts) hört aufmerksam zu. Foto: Jürgen Bröker

„Triff den Bergmann“ heißt die Aktion im Bergbau-Museum, bei der die Kumpel wie Paul Schenkel erklären, was hydraulische Stempel sind oder wie mit Hilfe eines großen Maschinenhobels die Kohle aus dem Stein geraubt wurde. Schenkel hat 30 Jahre unter Tage gearbeitet. Auf Zeche Hugo in Gelsenkirchen hat er angefangen, dann ging es auf Walsum in Duisburg weiter. Seine letzte Schicht hat er auf Auguste Victoria in Marl absolviert. Dann war Schluss. Jetzt erzählt er im Bergbaumuseum von dieser Zeit. Und das kommt gut an. Vor allem, wenn er die Ketten der großen Abbaumaschinen quietschen lässt.

„Ich finde es richtig cool hier. Einige Maschinen bewegen sich ja sogar“, sagt John. Gemeinsam mit seinen Eltern ist er an diesem Tag vom Niederrhein in den Ruhrpott gekommen. „Wir sind aus Kevelaer. Das ist ja nicht weit vom Ruhrgebiet entfernt. Ich finde es wichtig, dass wir uns da auch mit dem Bergbau auseinandersetzen“, sagt Johns Vater. 

Im Dezember 2018 endete der Steinkohlenbergbau in Deutschland. Auf den Bergbau kommt der Deckel. Ehemalige Schachtanlagen werden verfüllt. Steinkohlengewinnung in Deutschland ist Geschichte. Doch ganz verschwunden ist der Bergbau nicht. Museen, Erlebnisbergwerke oder auch einzelne Besucherstollen lassen erahnen, wie die Arbeit der Kumpel unter Tage ausgesehen hat, wie beschwerlich und aufwändig es war, dem Gestein in der Tiefe das schwarze Gold abzutrotzen. 

Drei Jahre lang umgebaut

Der wohl bekannteste Ort, an dem das möglich ist, ist das Deutsche Bergbau-Museum, das in Spitzenzeiten mehr als 350.000 Besucher pro Jahr zählte und damit eines der meistbesuchten Museen Deutschlands ist. In den vergangenen drei Jahren ist das Haus aufwändig umgebaut worden. Die umfangreiche Dauerausstellung mit rund 3000 Exponaten hat mit vier thematischen Rundgängen eine neue Struktur erhalten: Steinkohle, Bergbau, Bodenschätze und Kunst. Sie sollen den Besuchern die gesamte Bandbreite des Leibniz-Forschungsmuseums für Georessourcen vermitteln.

Im ersten Raum des Rundgangs Steinkohle ist Stammrest eines Schuppenbaumes zu sehen. Er stammt aus der Karbonzeit. Foto: Jürgen Bröker

Im ersten Raum des Rundgangs Steinkohle ist Stammrest eines Schuppenbaumes zu sehen. Er stammt aus der Karbonzeit. Foto: Jürgen Bröker

Nach dem Ende des Bergbaus stehe auch die Vermittlung des Themas vor neuen Herausforderungen. Schließlich gebe es bald die erste Generation, die mit dem Bergbau wenig zu tun habe, sagt Wiebke Büsch, Pressesprecherin des Museums. Moderner und ansprechender kommt die Ausstellung seit dem Umbau daher. Viele Inhalte werden multimedial vermittelt. Neben Erklärungen in deutscher und englischer Sprache gibt es auch besondere Schautafeln und Mitmach-Aktionen für kleine Museumsbesucher. 

Eineinhalb Stunden pro Rundgang

Der Rundgang Kohle empfängt die Besucher gleich mit dem größten Fossil des Museums, dem Stammrest eines Baumes aus der Karbonzeit. Mächtig steht er im Zentrum des ersten Raums, an dessen Wand auch das riesige Gemälde eines Karbonwaldes von Willy Kukuk hängt, das viele Besucher noch aus Schulbüchern kennen und das erst seit dem Umbau in seiner vollen Größe zu sehen ist.

Etwa eineinhalb Stunden benötigt man schon, um auf diesem Rundgang die Zeitreise vom Karbon über die Industrialisierung im 19. Jahrhundert, die Hochzeit des Steinkohlenbergbaus und seine Bedeutung für den Wiederaufbau Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg bis ins Jahr 2018 zu beenden. Dort angekommen verdeutlicht ein Spiegelkabinett mit einem Modell einer Tiefbaupumpe, dass der Wasserhaushalt unter Tage zu den Ewigkeitsaufgaben des Bergbaus gehört. Eine stetig wachsende Zahl zeigt an, welche Wassermengen bereits gepumpt wurden.

Blick über das Ruhrgebiet

Kuriosität in der Kunstsammlung des Deutschen Bergbau-Museums: eine Zeche in der Kokosnuss. Foto: Jürgen Bröker

Kuriosität in der Kunstsammlung des Deutschen Bergbau-Museums: eine Zeche in der Kokosnuss. Foto: Jürgen Bröker

Der Rundgang Steinkohle ist ein guter Auftakt für den Besuch des Museums. Danach sollte man unbedingt ins Anschauungsbergwerk, für das man sich ebenfalls etwa eineinhalb Stunden Zeit nehmen sollte. Wer dann wieder Sonnenlicht tanken möchte, kann den Aufzug hoch hinaus auf das Fördergerüst nehmen. Es ist das mit 650 Tonnen Gewicht und einer Gesamthöhe von etwa 71 Metern größte Ausstellungsstück und das Wahrzeichen des Museums. Von oben hat man einen faszinierenden Blick über das Ruhrgebiet. Aber wo einst Hunderte Fördergerüste in den Himmel ragten, ist nicht mehr viel vom Steinkohlenbergbau zu sehen.

Zurück im Museum warten noch drei weitere Rundgänge, die man in ihrer Gesamtheit aber kaum an einem Tag bewältigen kann. Inklusive Anschauungsbergwerk wäre man dann sicher sechs bis acht Stunden unterwegs. Und damit in etwa so lange, wie die Schicht eines Bergmanns unter Tage dauerte.

2. Station: LWL-Industriemuseum Zeche Zollern

Wir reisen weiter durchs Revier. Die zweite Station unserer kleinen „Unter-Tage-Reise“ liegt etwa zwölf Kilometer nordöstlich vom Bergbaumuseum entfernt: das LWL-Industriemuseum Zeche Zollern in Dortmund. Das Areal mit seinen Backsteinbauten und der großen Maschinenhalle mit der imposanten Architektur aus Glas und Stahl gilt als eines der schönsten und außergewöhnlichsten Zeugnisse industrieller Baukunst in Deutschland. Etwa 100.000 Menschen besuchen Zeche Zollern jedes Jahr. An manchen Tagen können sie sogar erleben, wie der alte Antrieb des Förderrads angeworfen wird. Ansonsten steht die Geschichte der Zeche und die Ausbildung zum Bergmann sowie das Leben als Kumpel im Mittelpunkt der Dauerausstellungen. 

„Was uns bisher gefehlt hat, ist ein Blick in die Welt unter Tage“, sagt Museumsleiterin Dr. Anne Kugler-Mühlhofer. Doch lange müssen die Besucher darauf nicht mehr warten. Am 23. Januar 2020 soll der erste Unter-Tage-Abschnitt auf Zollern eröffnet werden. Er befindet sich in einer etwa 40 Meter langen Röhre. In das Innere des Tunnels dringt kein Tageslicht. Sobald die Tür ins Schloss fällt, steht man im spärlich beleuchteten Dunkel. Der Geruch von Holz und Metall liegt in der Luft. Außerdem sind da laute Geräusche, die Techniker aufwändig unter Tage aufgenommen haben, um sie hier einspielen zu können. 

„Wir wollen unseren Gästen einen möglichst authentischen Eindruck von der Welt tief unter der Erde vermitteln“, sagt Kugler-Mühlhofer. Dazu gehört auch, dass die Besucher Helme aufsetzen müssen, um sich in diesem Teil des Museums zu bewegen. Im Unter-Tage-Tunnel sollen sie aktiv werden. Dabei stehen zwei Themen im Fokus: Wie haben die Bergleute Stollen und Strebe geschaffen und erhalten und wie haben sie die Kohle tatsächlich abgebaut? 15 bis 20 Besucher können pro Durchgang im Rahmen von offenen Führungen in die Rolle von Auszubildenden im Bergbau schlüpfen, um zum Beispiel zu erforschen, welches Material mehr Druck aushalten kann: Stahl oder Holz. Schmale Stäbe aus Holz und aus Stahl werden hierzu abwechselnd verschiedenen Gewichten ausgesetzt. Welches Material gibt wohl zuerst nach?

Lärm fährt in die Magengrube

Das gesamte Interieur des Tunnels stammt von der Zeche Westerholt in Gelsenkirchen. Als dort das Lehrbergwerk aufgegeben wurde, hat man auf Zollern nicht lange gezögert und es nach Dortmund gebracht. Das Besondere an dem „Bergwerks-Tunnel“: Er ist ebenerdig und barrierefrei zu erreichen. Wer die Enge des Bergbaus erleben möchte, muss allerdings unter die so genannten Schilde krabbeln, die das Deckengewölbe unter Tage abstützten. Dort fährt ein auf die Wand projizierter Hobel an der imaginären Kohle entlang. Der ohrenbetäubende Lärm dazu kommt aus leistungsstarken Boxen. Sie lassen das Knarren von Metal, das Bröckeln der Steine und schließlich das Krachen des Gebirges bis in die Magengrube spüren. 

Auf Zeche Zollern erhalten die Besucher einen authentischen Eindruck von der Welt tief unter der Erde. Foto: Zeche Zollern

Auf Zeche Zollern erhalten die Besucher einen authentischen Eindruck von der Welt tief unter der Erde. Foto: Zeche Zollern

Im Laufe der nächsten Jahre will das Industriemuseum noch weitere Bereiche eröffnen. „Dabei wollen wir in einem Bereich eine Werkstatt einrichten. Hier sollen die Gäste dann tatsächlichen Hand anlegen und Reparaturarbeiten durchführen, beispielsweise an einer Grubenlok oder an gerissenen Ketten, wie es auch unter Tage üblich war. Dort werden wir Themen aus der Metallverarbeitung ebenso aufgreifen wie aus dem Bereich Elektrizität“,  erklärt Kugler-Mühlhofer. 

Neben den regulären täglichen Führungen, werden „unter Tage“ individuelle Programme buchbar sein. Außerdem soll es ein spezielles Angebot für Schulklassen geben. „Wir wollen auf Zollern das bergbauliche Erbe sichern, aber auch nach vorne schauen“, sagt die Museumsleiterin.

3. Station: Erlebnisbergwerk Recklinghausen

Ganz ohne Ausstellung und musealen Ansatz kommt das Erlebnisbergwerk in Recklinghausen aus – die dritte Station unserer Reise. Wer hier ankommt, taucht nicht nur optisch in die Welt unter Tage ein. Die Kumpel, die hier in den Berg führen, setzen alles daran, die besondere Atmosphäre des Bergmann-Arbeitsplatzes zu vermitteln. Das erfährt an diesem Nachmittag auch die Besuchergruppe vom Finanzamt Marl. „Hallo“, sagen die meisten zur Begrüßung. „,Hallo` könnt ihr hier mal gleich vergessen, bei uns heißt et Glück auf“, sagt Jürgen Biermann. Er wird die Führung der Finanzbeamten leiten. Und weil er schon mal dabei ist, einige Dinge zu erklären, fügt er noch an: „Unter Tage gab et kein ,Sie`. Da waren alle per du. Deshalb duzen wir uns hier auch.“ 

23 Jahre war Biermann selbst unter Tage, ehe er die restlichen 18 Jahre seines Berufslebens in der Verwaltung gearbeitet hat. Heute engagiert er sich wie rund 250 weitere ehemalige Kumpel im Verein der Freunde und Förderer des Trainingsbergwerks Recklinghausen. Der Verein will das Gelände, das der Regionalverband Ruhr von der RAG gekauft hat, erhalten und weiter ausbauen. Außerdem ist das ehemalige Trainingsbergwerk ein wichtiger Treffpunkt für die Bergleute. Sie tauschen sich aus und sprechen über gemeinsame Zeiten – so wie früher auf der Schicht.

Ehemalige Bergleute berichten in Recklinghausen, wie unter Tage gearbeitet wurde. Foto: Jürgen Bröker

Ehemalige Bergleute berichten in Recklinghausen, wie unter Tage gearbeitet wurde. Foto: Jürgen Bröker

Vor der Führung erklärt Kumpel Biermann einiges zur ehemaligen Zeche, zu der das Gelände gehört. So hat ursprünglich eine belgische Aktiengesellschaft die Schächte abgeteuft und diese „Clerget“ genannt. „Damit konnten die Recklinghäuser aber nichts anfangen und haben immer nur „Zeche Klärchen“ gesagt“, so Biermann. Die Steine und Erde, die man dabei aus den Tiefen heraufgeholt hatte, schütteten die Bergleute zu einer Abraumhalde auf. „Und darin befinden wir uns nun“, sagt der Kumpel. Eine nicht ganz 20 Meter dicke Schicht Gestein ist über den Köpfen der Besucher im mit fast 1400 Metern Strecke größten Steinkohle-Erlebnisbergwerks in Deutschland. 

Zwar läuft man auch in Recklinghausen ebenerdig ins Bergwerk, doch Grubengeruch und unebener Boden erinnern neben den ganzen Gerätschaften auch gestandene Bergleute an ihre Zeit unter Tage. So wie Fredi Jaensch. Mit einem alten Kollegen hat sich der Rentner der heutigen Führung angeschlossen. Von 1964 bis 1997 hat Jaensch in mehr als 1000 Meter Tiefe gearbeitet. „Es ist schön, dass es so was wie hier gibt. Das ist kein Museum. Das ist die Wirklichkeit“, sagt er. 

Geräte und Maschinen dürfen ausprobiert werden

Vor allem bei der Aktivführung, einer von insgesamt drei Führungen im Angebot des Vereins, dürfen die Besucher selbst Hand anlegen. Sie können mit der Dieselkatze oder dem Grubenfahrrad fahren. Auch einen Senklader Typ GSR 3, den Kinder bei einer Führung T-Rex getauft haben, weil er solch einen ohrenbetäubenden Lärm macht, dürfen sie ausprobieren. Außerdem kriechen die Besucher unter Abstütz-Vorrichtungen hindurch und müssen über ein Transportband klettern.

Auch eine Dieselkatze ist in Recklinghausen zu sehen. Foto: Jürgen Bröker

Auch eine Dieselkatze ist in Recklinghausen zu sehen. Foto: Jürgen Bröker

„Ich hätte nie gedacht, dass es wirklich so eng war. Die Führung vermittelt einen sehr authentischen Eindruck der Arbeit unter Tage“, sagt Stephanie Real. Für sie ist es der erste Besuch eines „Bergwerks“. Und ganz nebenbei vermittelt Kumpel Biermann mit seinem Kollegen Michael Hemp auch noch typisches Bergmannsvokabular. Etwa, dass der Boden auf dem man gerade steht, eben nicht Boden sondern Sohle heißt und das Werkzeug Gezähe. 

Anders als bei den Unter-Tage-Erlebnissen in den Museen, müssen die Führungen hier im Vorfeld fest gebucht werden. Man kann nicht einfach kommen und losgehen. Noch immer steht das Gelände nämlich unter Bergaufsicht. Für die Zukunft sind noch weitere Angebote geplant. Die Vereinsmitglieder arbeiten an einem Escaperoom mit Bergmannsbezug. Außerdem wird ein Rundkurs für eine Grubenbahn gebaut, und eine Bandfahrt soll auch bald möglich sein. 

Und Handfestes gibt es auch: Am Ende der Führung darf jeder Besucher eine kleine Tüte mit Kohle mit nach Hause nehmen, die in einer großen Kiste lagert. „Das ist Anthrazit-Kohle aus Ibbenbüren“, sagt Michael Hemp und macht ein Tütchen fertig. Viel ist nicht mehr in der großen Kiste. „Wenn wir davon nichts mehr haben, müssen wir Kohle aus Polen importieren“, sagt er und schließt den Deckel der Kiste. 

Jürgen Bröker

Der Text stammt aus dem WESTFALENSPIEGEL Heft 6/2019.

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