Die Zahl der jungen Patienten mit Essstörungen hat während der Pandemie um bis zu 50 Prozent zugenommen. Foto: IMAGO / Panthermedia
04.10.2021

Wenn die Seele hungert

Die Zahl der Essstörungen bei jungen Menschen hat in der Pandemie zugenommen. Ein Besuch in der Haardklinik.

Nein, dass sie mit dieser Sache ins Krankenhaus kommen könnte, hätte sie nie gedacht, sagt Lisa (Name von der Redaktion geändert). 17 Jahre ist sie alt, hat im Frühjahr ihr Abitur gemacht. Seit etwa vier Monaten wird sie nun in der LWL-Klinik Marl-Sinsen stationär behandelt. Sie hat Magersucht, eine Krankheit, die sie sich lange nicht eingestehen wollte.

Lisa ist kein Einzelfall. Psychische Erkrankungen bei jungen Menschen haben in den vergangenen Jahren zugenommen – nicht erst seit der Corona-Pandemie. Doch auch wenn die Fallzahlen gestiegen sind, eine „Katastrophisierung“ der Situation sieht der ärztliche Direktor der LWL-Klinik Marl-Sinsen Dr. Claus Rüdiger Haas nicht. „Es gibt keine bessere kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung als in Deutschland“, sagt Haas. Das System funktioniere sehr gut. Für betroffene junge Menschen gebe es hochqualifizierte Hilfe. Der größte Fehler im System sei immer noch die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen. Wenn das Kind einen Schnupfen habe, liefen die Eltern zum Arzt. Bei Essstörungen und anderen seelischen Erkrankungen werde dagegen gewartet. Häufig leider immer noch zu lange.

Pandemie als Beschleuniger

Für einige Krankheitsbilder und Patientengruppen wirkten die Corona-Einschränkungen aber wie ein Verstärker. So beobachtet Haas, dass Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen seit Beginn der Pandemie um rund 50 Prozent zugenommen haben. „Wir sehen außerdem, dass die Patientinnen immer jünger werden und die Fälle schwerer“, sagt Haas. Mit ihren 17 Jahren liegt Lisa schon über dem Durchschnitt der in Marl wegen Magersucht oder Bulimie behandelten Patienten. Seit 1993 die ersten Jugendlichen mit Essstörungen in die Haardklinik kamen, ist das Durchschnittsalter von etwa 20 Jahren auf unter 15 Jahre gefallen.

Zentralgebäude: Die LWL-Klinik Marl-Sinsen zählt zu den größten Fachkliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland. Foto: LWL/Wieland

Zentralgebäude: Die LWL-Klinik Marl-Sinsen zählt zu den größten Fachkliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland. Foto: LWL/Wieland

Auch bei Lisa hat die Pandemie begünstigt, dass sich die Essstörung in ihr Denken und Fühlen einschleichen konnte. Immer weiter von ihr Besitz ergriff. Zunächst langsam, bis sie schließlich kaum noch Platz für andere Gedanken ließ. Lisas Magersucht-Geschichte beginnt im Sommer des vergangenen Jahres. „Da wurden Sport und Ernährung wichtigere Themen für mich“, sagt sie und zupft an den Ärmeln ihres weiten Kapuzenpullovers. Anfangs hat sie lediglich ungesunde Nahrungsmittel weggelassen. Sie trieb mehr Sport und nahm ab. Es gab Schwankungen. Zwischendurch stabilisierte sich ihr Gewicht, doch mit dem Lockdown im Winter setzte der Sog unaufhaltsam ein. „Ich habe mir eine ausdauernde Sportroutine überlegt“, sagt sie. Die Kalorien, die sie dabei verbrauchte, enthielt sie ihrem Körper immer mehr.

Kontrolle über den Körper

Beim Essen gab es zunehmend Streit in der Familie. Ihre Eltern machten sich Sorgen, die Mutter kochte ihr Lieblingsessen, versuchte sie zu überzeugen, dass sie mehr essen müsse. Auch ihren Freundinnen fiel die Gewichtsabnahme auf. Doch Lisa hat die Warnungen nicht ernstgenommen. Warum auch? „Ich habe gedacht, wenn ich will, kann ich ja wieder anfangen zu essen“, sagt sie. Ein Trugschluss.


Dieser Beitrag erschien in Heft 5/2021 des WESTFALENSPIEGEL.


„Unter Coronabedingungen haben viele, gerade auch viele junge Menschen die Kontrolle über das Leben verloren“, sagt Haas. Kein geregelter Schulalltag, viel Zeit zuhause, allein, keine Treffen im Sportverein oder in Jugendgruppen. Weil auch viele Eltern im Homeoffice arbeiteten, hat sich auch das Familienleben verändert. „Die Magersucht füllt dann alles aus, was die Betroffenen sich wünschen. Sie haben Kontrolle über ihren Körper. Aus dem Sog, den die Erkrankung entwickelt, können sich die Jugendlichen dann nicht mehr befreien“, sagt Haas.

Dr. Claus Rüdiger Haas, ärztlicher Direktor der LWL-Klinik Marl Sensen. Foto: LWL

Dr. Claus Rüdiger Haas, ärztlicher Direktor der LWL-Klinik Marl Sensen. Foto: LWL

Lisa kam aus dem Krankenhaus direkt nach Marl. Sie hatte sich nach dem Abitur so weit „runtergehungert“, dass ihr Hausarzt sie zunächst in eine Kinderklinik eingewiesen hat. Magersucht trifft vor allem ehrgeizige und perfektionistisch veranlagte Kinder und Jugendliche. Auch beim Abnehmen gehen sie sehr akribisch vor. „Meine Sportroutine einzuhalten, war Stress. Ich konnte das aber auch nicht stoppen. Wenn ich es nicht geschafft habe, das durchzuziehen, hatte ich schlechte Laune und war sauer auf mich selbst“, sagt Lisa.

Der Rigidität der Erkrankung setzt man auch ein rigides Behandlungskonzept entgegen. Dabei geht es in der Therapie zunächst darum, das Gewicht zu stabilisieren und wieder zuzunehmen. Zwei Mal pro Woche müssen die Patienten auf die Waage – unter Beobachtung. Es geht aber nicht darum, möglichst schnell möglichst viel Gewicht zuzulegen.

„Zu Beginn der Behandlung werden mit den Patienten unterschiedliche Gewichtsziele individuell besprochen, die in bestimmten Phasen der Behandlung erreicht werden sollen“, sagt Dr. Carolin Wilker, Oberärztin der Haardklinik. Dafür stehen täglich sechs feste Mahlzeiten auf dem Plan. Die jungen Patienten starten in unterschiedlichen Kalorienstufen, die sich danach richten, wie viel sie vor der Aufnahme in die Klinik noch zu sich genommen haben. Im Verlauf der Therapie werden diese Kalorienstufen angepasst, so Wilker. Anfangs müssen die Mädchen unter Aufsicht essen. Häufig gibt es dabei Tränen. Auch Lisa fühlte sich zunächst überfordert. „Es ist aber gut, dass jemand dabei ist, der einen motiviert zu essen, und Verständnis dafür hat, wenn es schwerfällt“, sagt sie.

Langer Klinikaufenthalt

Der LWL betreibt vier psychiatrische Kliniken im Kinder- und Jugendbereich mit jeweils mehreren angegliederten Tageskliniken. Die Klinik in Marl-Sinsen zählt zu den größten Fachkliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland. Aktuell werden dort und in den dazugehörenden Tageskliniken rund 180 junge Patientinnen und Patienten mit unterschiedlichen psychischen Erkrankungen behandelt: Depression, Zwangs-, Angst-, Verhaltens- und Essstörungen. Wochen- und monatelang leben die Patienten in Marl. Daher gibt es auf den Stationen neben den Patientenzimmern auch Wohn- und Aufenthaltsräume mit Billardtisch und Wohlfühlatmosphäre, sowie eine Küche, in der gemeinsam gegessen und auch mal gekocht wird. Hier hängt auch der Speiseplan mit den unterschiedlichen Kalorienstufen.

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Außerdem bietet das 34 Hektar große Gelände viele verschiedene Therapie-Möglichkeiten. Unter anderem gibt es ein eigenes Wildgehege sowie Pferde, Esel, Kaninchen und Meerschweinchen für eine tiergestützte Therapie, verschiedene Sportmöglichkeiten vom Klettergarten bis zum Schwimmbad sind vorhanden. Der nahegelegene Wald ist ideales Ziel für Spaziergänge und Mountainbike-Touren. Ein sogenanntes Snoezel-Zentrum lädt zur Entspannung und zu Übungen der eigenen Wahrnehmung ein. Sogar eine eigene Schule steht den jungen Patienten zur Verfügung.

Eltern in Therapie einbinden

Bei der Behandlung von Essstörungen arbeiten Mediziner und Therapeuten mit einem Belohnungssystem: je nach Gewichtszunahme und Symptomverbesserung erhalten die Patientinnen mehr Freiheiten, dürfen die Schule besuchen, Mahlzeiten ohne Aufsicht einnehmen oder an den Wochenenden nach Hause. „Wichtig ist auch, dass die Eltern und die Familie mit in die Therapie eingebunden werden“, sagt Mediziner Haas. Immer noch haben Eltern Angst davor, ihr Kind in Therapie zu bringen. Sie nehmen das als eigenes Versagen wahr. „Es gibt aber keine Verurteilung. Eltern sind für uns primär Teil der Lösung“, erklärt Haas.

Lisa freut sich auf die Wochenenden zuhause, bei ihren Eltern und ihren beiden Geschwistern. Streit über das Essen gibt es dort immer seltener. Seit Beginn der Therapie hat Lisa sieben Kilogramm zugenommen. „Ich fühle mich damit besser als gedacht“, sagt sie. „Schade, dass noch so viel vor mir liegt.“ Für die Zukunft wünscht sie sich, dass Essen zur Normalität wird, dass sie sich nicht mehr so viele Gedanken darüber machen muss. Die Zeiten, in denen sie Pizza und Chips mit Freude gegessen hat, scheinen dennoch eine Ewigkeit zurückzuliegen. Sie will es vielleicht mal wieder probieren, sagt sie. Bald.

Jürgen Bröker, wsp

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