„Wie ein Traum“
Ingrid Mickler-Becker aus Geseke holte zweimal Olympiagold. Ihre ersten Spiele erlebte sie 1960 in Rom und wurde zweimal zur Sportlerin des Jahres gewählt.
Ganz Geseke war im Oktober 1968 auf den Beinen, um die Fünfkampf-Olympiasiegerin von Mexiko zu empfangen. Tausende Menschen jubelten ihr zu. „Ich wurde völlig überrascht“, erinnert sich Ingrid Mickler-Becker, die nur in ihren Geburtsort gefahren war, um sich mit Freunden zu treffen. Ingrid Becker, so ihr Geburtsname, nahm gleich viermal an Olympischen Spielen teil. In den 1960er und 70er Jahren zählte sie zu den populärsten deutschen Leichtathletinnen. 1968 und 1971 wurde sie zur Sportlerin des Jahres gewählt.
Dabei hat die begeisterte Turnerin erst als Jugendliche mit der Leichtathletik begonnen. Doch sie war schnell erfolgreich: Schon mit 17 Jahren erfüllte sie die Olympianorm im Hochsprung und fuhr 1960 als Jüngste der deutschen Mannschaft mit nach Rom. An ihre ersten Olympischen Spiele denkt die 78-Jährige heute am liebsten zurück, „weil alles überwältigend war, wie ein Traum“, sagt sie im Telefoninterview. „Es war mein erster Flug und Auslandsaufenthalt. Es war das erste Mal, dass ich Menschen aus so vielen Nationen kennengelernt habe. Ich habe zum ersten Mal alles, was es zu essen gibt, im Überfluss gesehen, und ich durfte die Kulturstätten Roms besichtigen. Daher habe ich am Tag der Schlussfeier gesagt: Das möchte ich mir noch einmal spendieren.“
Staffelgold 1972 in München
Ihr Wunsch ging in Erfüllung: Bei den Spielen in Tokio 1964 schaffte sie den vierten Platz im Weitsprung, 1968 in Mexiko erkämpfte sie eine der fünf bundesdeutschen Goldmedaillen. Und 1972 lief sie im Münchener Olympiastadion mit der 4×100-Meter-Staffel sogar Weltrekord. Trotz der tragischen Ereignisse fünf Tage zuvor, als Terroristen das blutige Attentat auf die israelische Mannschaft verübten. Ingrid Becker hat selbst einige der Geiselnehmer im Olympischen Dorf gesehen. Eines der Opfer kannte sie persönlich.
Am legendären Staffellauf von München wollte sie erst gar nicht teilnehmen, weil sie eine Auseinandersetzung mit ihrem Trainer hatte: „Ich sollte als Zweite laufen und den Staffelstab übergeben, das hatte ich aber noch nie gemacht.“ Dass sie letztlich mit Christiane Krause, Annegret Irrgang (heute: Richter) und Heide Rosendahl das Rennen vor der DDR-Staffel gewann, bekam sie erst gar nicht mit, weil sie nach ihrer Stabübergabe einer verletzten australischen Athletin half. Danach fasste sie einen spontanen Entschluss: „Ich habe die Schuhe ausgezogen und gesagt: Das war es.“ Sie nahm nie wieder an einem Leichtathletik-Wettkampf teil.
Spaziergänge in den Weinberge
Damals hatte sie ihre Verwaltungslaufbahn in ihrer Heimat längst aufgegeben und studierte „mit Begeisterung“ in Mainz. Sie wurde Lehrerin, engagierte sich in Gremien, setzte sich für Sportangebote in der Krebsnachsorge ein. Mit ihrem Mann und ihrem Sohn ging sie zeitweise in die USA. Nach ihrer Rückkehr nahm sie das Angebot an, Staatssekretärin im rheinland-pfälzischen Sozialministerium zu werden. Später arbeitete sie als Personalberaterin.
Heute lebt Ingrid Mickler-Becker in Zornheim bei Mainz, wo sie ihren Garten „und die Spaziergänge in die Weinberge“ genießt. Auch als Vorsitzende des Fördervereins der Leichtathletik Geseke ist die Ehrenbürgerin ihrer Heimatstadt noch aktiv. Die Olympischen Spiele in Tokio will sie intensiv verfolgen: „Dann werde ich Stunden vor dem Fernseher verbringen.“
Martin Zehren
Der Beitrag stammt aus Heft 3/2021 des WESTFALENSPIEGEL. Gerne senden wir Ihnen im Rahmen des Probeabos zwei kostenlose Ausgaben zu. Hier geht’s zum Probeabo.
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