Prof. Dr. Carsten Watzl ist Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie und wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Arbeitsforschung an der Technischen Universität Dortmund. Foto: TU Dortmund
17.03.2022

„Wir erzeugen einen Blindflug“

Der Virologe Carsten Watzl sieht die anstehenden Lockerungen der Coronamaßnahmen kritisch. Im Interview mit dem WESTFALENSPIEGEL spricht er sich auch für eine Impfpflicht für alle Bürger ab 50 Jahren aus.

Herr Watzl, die Infektionszahlen steigen seit Anfang März wieder. Kommt das für Sie überraschend?
Nein, die Infektionszahlen steigen wahrscheinlich aus zwei Gründen. Zum einen, weil sich die Untervariante von Omikron, die BA.2-Variante, immer weiter ausbreitet. Mittlerweile werden die meisten Infektionen durch diese Variante verursacht, die noch einmal ansteckender ist. Daher sind steigende Zahlen vorhergesagt worden.

Was ist der zweite Grund?
Nun ja, wenn man lockert – und wir haben ja jetzt schon zwei Lockerungsschritte hinter uns – dann hat das Virus auch wieder mehr Möglichkeiten, Menschen zu finden, die es noch infizieren kann.

Sie sind also kein Befürworter der frühzeitigen Lockerungen.
Ich sehe das zumindest mit gemischten Gefühlen. Denn: Es ist richtig, dass wir die Omikronwelle trotz enorm hoher lokaler Inzidenzen gut überstanden haben. Hier in Dortmund lag die Inzidenz zum Beispiel teilweise über 2000, dennoch waren die Intensivstationen zu keiner Zeit überlastet.

Das klingt doch gut.
Trotzdem bereiten diese hohen Infektionszahlen Probleme. Die Krankenhäuser sind natürlich belastet, weil sehr viel Personal infiziert wird und ausfällt. Und es kommen sehr viele Menschen mit Corona und nicht wegen Corona ins Krankenhaus. Diese Patienten müssen aber isoliert werden. Bei Behandlungen muss sich das ärztliche und das Pflegepersonal besonders schützen. Das ist ein riesiger logistischer Aufwand. Teilweise müssen Stationen zusammengelegt werden. Dadurch kommen die Krankenhäuser schon an ihre Belastungsgrenzen.

Auch im Supermarkt sollen im Zuge der Lockerungen die Masken fallen. Foto:Pixabay

Auch im Supermarkt sollen im Zuge der Lockerungen die Masken fallen. Foto:Pixabay

Was schlagen Sie vor, schließlich stehen ja schon die nächsten Lockerungen ins Haus?
Es wäre zumindest schön, wenn man bei weiter steigenden Inzidenzen noch einen Instrumentarienkasten hätte, den man relativ schnell hervor holen könnte, wenn es notwendig wird. Im Moment scheint mir eher das Prinzip Hoffnung vorzuliegen. Nach dem Motto: Wir lockern zwar, und ja die Inzidenzen werden noch weiter nach oben gehen, aber es wird schon nicht so schlimm sein, dass wir da noch eingreifen müssten.

Sehen Sie das anders?
Ich habe ein Problem damit, dass man die Maßnahmen so weit abschafft, dass sie kaum wieder hervorgeholt werden können. Ich hätte wenigstens gerne die Möglichkeit, dass man im Fall der Fälle problemlos gegensteuern kann. Das wird auf Bundesebene jetzt aber sehr schwer gemacht und kann eigentlich nur passieren, wenn die Länder Maßnahmen beschließen. Dadurch wird die Geschwindigkeit, mit der man reagieren kann, deutlich ausgebremst. Und das sollten wir doch aus der Vergangenheit gelernt haben: Je schneller und frühzeitiger man reagieren kann, desto weniger hart muss man eingreifen und desto effektiver ist das auch.

Ist der Zeitpunkt für die Lockerungen falsch?
Er ist zumindest nicht unbedingt der richtige, um es mal vorsichtig zu formulieren. Es gibt immer noch vulnerable Gruppen und auch immer noch Menschen, die an Corona sterben. Da ist die Gruppe der Ungeimpften, besonders solche mit Risikofaktoren. Da wäre natürlich die Impfung die Lösung. Aber es gibt auch eine Gruppe von Menschen, die wegen einer Immunschwäche nicht oder nicht ausreichend auf die Impfung reagiert, und deswegen bei einer Infektion schwer erkrankt. Wenn wir nun fast überall die Masken abschaffen, dann machen wir es für diese Gruppe schwer, sich vor einer Infektion zu schützen. Daher hätte ich es gut gefunden, wenn wir die Masken zumindest in Bereichen des täglichen Lebens beibehalten hätten – etwa in der Apotheke, beim Bäcker oder im Supermarkt.

Ohne Bürgertests begeben wir uns in einen „Blindflug“, sagt Virologe Watzl. Foto: Pixabay

Ohne Bürgertests begeben wir uns in einen „Blindflug“, sagt Virologe Watzl. Foto: Pixabay

Auch die Bürgertests sollen abgeschafft werden.
Das ist auch ein Problem. Mit der Abschaffung erzeugen wir mehr oder weniger einen Blindflug – das Feststellen einer Infektion wird erschwert, auch wenn sich die Bürger nach wie vor zuhause testen könnten. Wenn wir weniger testen, werden wir auch weniger Menschen finden, die positiv sind. Das heißt aber nicht, dass es diese Menschen nicht gibt. Wenn ich positiv bin, es selber aber gar nicht weiß und mich auch nicht entsprechend verhalte, dann kann das auch wieder nach hinten losgehen, weil sich das Virus wieder mehr verbreiten kann.

Würden Sie für eine Impfpflicht stimmen?
Ich glaube, wir brauchen sie, um ähnlich gut durch den nächsten Winter zu kommen. Aber ich befürchte auch, dass es für die Politik in dieser aktuellen Lockerungsstimmung schwer wird, eine Impfpflicht – in welcher Form auch immer – zu beschließen. Das schlimmste, was uns passieren kann, ist, wenn die Politik auf diesem Feld versagt und sich gegen eine Impfpflicht entscheidet.

Warum das?
Im nächsten Winter könnte nicht mehr Omikron die vorherrschende Variante sein. Es könnten auch Varianten vorherrschen, die so krankmachend wie Delta aber auch so ansteckend wie Omikron sind. Da würde die Impfung auch vor einem schweren Verlauf schützen. Ungeimpfte haben dann ein Problem und erkranken wahrscheinlich schwer. Im nächsten Winter schnell eine Impfpflicht hervorzuzaubern, würde nichts mehr bringen. Dann muss man wieder mit 2G und 3G und Maskenpflicht arbeiten. Aber das will ja keiner. Daher appelliere ich auch an die Politik, dass man mögliche andere Varianten jetzt nicht aus dem Auge verlieren darf.

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Was muss passieren, damit wir im nächsten Winter nicht wieder ein böses Erwachen erleben?
Idealerweise und ganz realistisch sollte eine Impfpflicht für Menschen ab 50 Jahren beschlossen werden. Die muss dann aber auch so ausgestaltet sein, dass sie wirkt. Dann wäre unsere Immunitätslücke gut geschlossen. Man kann zwar sagen, die Lücke schließen wir auch, wenn sich viele Menschen mit Omikron infizieren, aber: Die alleinige Infektion ohne Impfung gibt zwar auch eine Immunität, diese ist aber nicht so gut wie eine Infektion plus Impfung.

Was fehlt uns dazu, um normal mit dem Virus leben zu können?
Wir stehen doch schon deutlich besser da. Menschen die einen ausreichenden Impfschutz haben, können ihre Angst vor dem Virus ablegen. Die Impfung schützt zuverlässig vor einem schweren Verlauf, auch bei der Behandlung der Erkrankten sind wir besser geworden. Außerdem können wir auch besser einschätzen, welche Maßnahmen etwas bringen. Wir werden über den Sommer auch wieder deutlich niedrigere Inzidenzen haben, auch wenn ich nicht glaube, dass diese im einstelligen Bereich liegen werden. Das wird uns dann aber kein großes Problem bereiten. Und so wird es in Zukunft laufen: Das Virus wird nicht verschwinden. Die jüngeren und sonst immungesunden Menschen, die jetzt drei Mal geimpft sind, werden sich ihre Immunität mit einer Infektion auffrischen, ohne schwer zu erkranken. Die Älteren werden wir im Herbst wahrscheinlich mit einem angepassten Impfstoff boostern, um sie gut durch den Winter zu bringen. Daher können wir auch positiv in die Zukunft blicken. Das Gröbste haben wir hinter uns.

Interview: Jürgen Bröker, wsp

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