Dr. Georg Lunemann, geb. 1967, ist in Olfen (Kreis Coesfeld) auf einem Bauernhof aufgewachsen. Er ist zum Offizier der Bundeswehr ausgebildet worden und hat an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Betriebswirtschaft studiert. Von 1998 bis 2010 war er beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) in unterschiedlichen Führungsfunktionen tätig und anschließend Kämmerer der Stadt Gelsenkirchen. 2015 kehrte er als Kämmerer und Erster Landesrat zum LWL zurück. Seit dem 1. Juli ist Georg Lunemann Direktor des Kommunalverbandes mit über 19000 Beschäftigten und Vorsitzender des Westfälischen Heimatbundes. Foto: LWL/Haslauer
18.10.2022

„Wir wollen Taktgeber sein“

Seit rund 100 Tagen ist Dr. Georg Lunemann neuer Direktor der Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL). Im Interview mit dem WESTFALENSPIEGEL spricht er über aktuelle Herausforderungen, Solidarität, Zusammenarbeit und den Mut zur Kür.

Herr Dr. Lunemann, seit dem 1. Juli sind der neue Chef des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Wie geht es Ihnen? 
Sehr gut. Ich kann mich über Langeweile nicht beklagen (lacht). Die neue Aufgabe bringt es mit sich, dass ich viele Kontakte nach außen habe und mit sehr vielen Menschen zusammenkomme.  

Sie haben sich in einer Zeit der Krisen und des Umbruchs bewusst auf Ihr neues Amt beworben. Was möchten Sie in den nächsten acht Jahren erreichen?
Dass der LWL mit seinen unterschiedlichen Aufgabenbereichen noch größere Schatten wirft. Die Menschen zahlen – mittelbar oder unmittelbar – viel Geld an uns und fragen sich oft, wofür das Geld eigentlich gebraucht wird. Wenn man mal die Kultur außen vorlässt, bieten wir Leistungen im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und dem Maßregelvollzug. Das heißt, die Leute, die uns nicht kennen, können sich eigentlich glücklich schätzen, weil sie unsere Leistungen nicht in Anspruch nehmen müssen. Für die anderen aber sind wir da, und sie können sich auf uns verlassen. Ebenfalls gerne nach vorne bringen möchte ich, dass man den LWL in Zukunft vermehrt als eine Art Vernetzungsplattform insbesondere für die Kreise, für die kreisfreien Städte, aber auch für die Teilregionen nutzen kann.

Welches sind denn die größten Herausforderungen, die der LWL in den nächsten Monaten meistern muss?
Aktuell beschäftigen wir uns mit den Krisen, die wir alle mehr oder weniger spüren. Wir werden uns weiterhin dem Thema Corona widmen müssen, besonders in unseren psychiatrischen Einrichtungen und dort, wo Menschen mit Behinderungen betreut werden. Denn nicht alles, was sonst an Maßnahmen greift, ist bei diesen Menschen genauso umsetzbar. Und niemand weiß, was der Herbst bringt. Wir werden uns natürlich mit dem Thema Ukrainekrieg und den Auswirkungen, die dieser Krieg auch bei uns hat, auseinandersetzen müssen, insbesondere was das Energiesparen angeht. Was mich ebenfalls sehr stark beschäftigt, ist der zunehmende Fachkräftemangel. 

LWL soll bis 2030 klimaneutral werden

Stichwort Energiekrise. Die Ausgaben für Energie im gesamten LWL werden sich im kommenden Jahr verdreifachen. Wie kompensieren Sie die Mehrkosten?
Wir starten ja nicht bei null. Wir haben im LWL ein integriertes Klimaschutzkonzept verabschiedet, das vorsieht, bis 2030 klimaneutral zu werden. Das Konzept steht auf zwei Füßen. Auf der einen Seite sind das die Einsparpotenziale. Auf der anderen Seite gilt es das, was wir nicht einsparen können, zu kompensieren, etwa durch die Produktion regenerativer Energien. Da haben wir uns schon auf den Weg gemacht.

Fürchten Sie, dass der LWL bei bestimmten Leistungen Abstriche machen muss?
Wenn man die aktuelle Situation ansieht, haben wir tatsächlich nur wenige Aufgabenbereiche, in denen wir von einer Gassperre bedroht sind. Einerseits. Andererseits können wir in manchen Bereichen auch gar nicht sparen. So können wir bei den Therapiebädern in den Schulen nicht einfach die Temperatur senken. Denn dann kann keine Therapie mehr stattfinden – so ehrlich muss man sein. Dennoch gilt es natürlich dort, wo wir selbst gestalten können, einen hohen Maßstab anzusetzen. Zum Beispiel schauen wir uns gerade an, welche Investitionen aufschiebbar sind. Aber bei bestimmten Baumaßnahmen, etwa im Schulbereich, geht das nicht.

In Ihrer Antrittsrede sagten Sie, der LWL solle neben der Pflichterfüllung „auch den Mut zur Kür haben!“ Was gehört für Sie zur Kür?
Dass wir auch links und rechts schauen, wo wir Aufgaben für die Mitglieder des LWL  – neun kreisfreie Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe – übernehmen und ihnen so einen Mehrwert bieten können. Das klappt im Kulturbereich schon sehr gut, wo das kulturpolitische Konzept mit ganz vielen Akteuren entwickelt wurde und wir viele technische und fachliche Dienstleistungen wie zum Beispiel die Trocknung wassergeschädigter Akten, Dokumente und Fotos anbieten können. Auch in anderen Bereichen könnte noch enger zusammengearbeitet werden. 

Zum Beispiel?
Das Landesjugendamt ist für alle Kinder zuständig, und so kann ich mir vorstellen, dass wir hier einen Prozess etablieren, der viel breiter aufgestellt ist, der nicht nur die Fachleute aus den Jugendämtern mit einbezieht, sondern alle, die mit dem Thema Kinder und Jugendliche zu tun haben. Es kann auch nicht sein, dass im Bereich der Behindertenhilfe, der sogenannten Eingliederungshilfe, in Düsseldorf die Experten zusammensitzen, der LWL aber nicht mit am Tisch ist. Da müssen wir uns auf den Weg machen, diese Expertise zu verdeutlichen, selber Taktgeber zu sein und mit wissenschaftlicher Unterstützung Zukunftsmodelle zu entwickeln.

LWL-Direktor Dr. Georg Lunemann hielt im August seine Antrittsrede bei der Landschaftsversammlung in Münster. Foto: LWL/Arendt

LWL-Direktor Dr. Georg Lunemann hielt im August seine Antrittsrede bei der Landschaftsversammlung in Münster. Foto: LWL/Arendt

Zurzeit diskutiert der LWL über Energieeinsparungen in seinen Kultureinrichtungen. Gehen in den Museen bald die Lichter aus?
Nein, aber natürlich müssen wir uns die Frage stellen: Können wir im Kulturbereich so weitermachen, als wenn nichts passiert wäre? Das geht natürlich nicht. Auch hier diskutieren wir zurzeit, welche Maßnahmen in vertretbarem Rahmen Energieeinsparmöglichkeiten bieten könnten. Was könnte eventuell etwas kleiner ausgestaltet werden, was ist vielleicht verschiebbar. So ist in unserem Museumsentwicklungsplan vorgesehen, dass wir das Textilwerk Bocholt zum Ganzjahresbetrieb ausbauen. Das werden wir jetzt erstmal um mindestens zwei Jahre verschieben.

Wird es in Zukunft noch Geld für neue spannende Kulturprojekte, hochkarätige Sonderausstellungen und Investitionen in Museen geben? 
Ja, wir werden weiterhin in Kultur investieren. Ich denke, dass Kultur immer mehr zur Pflicht wird. Diese Gleichung Kultur = freiwillige Aufgabe = Streichungspotenzial geht nicht auf. Kultur hat ja auch einen Bildungsauftrag. Gerade durch die Corona-Pandemie, in der Schülerinnen und Schüler an vielen Dingen nicht teilnehmen konnten, ist die Bedeutung von Kultur noch gewachsen. Mit einem Stopp aller Kulturaktivitäten können die Finanzprobleme weder bei uns, noch im Land oder beim Bund gelöst werden. Da reicht ein Blick in die Kulturhaushalte. 

Sie können sich vorstellen, dass sich der LWL bei der ökologisch ausgerichteten Energiegewinnung engagiert. Wie kann das aussehen? 
Die Überlegungen sind nicht neu. Schon mein Vorgänger hat die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Westfalen-Lippe angeschrieben, ob wir uns dort an bestehenden Energieparks beteiligen können, oder ob wir selbst etwas hochziehen und sich die Kommune beteiligen. Die Rückläufe dazu waren jedoch noch überschaubar. Aber ich glaube, dass ein solches Modell in Zukunft und vor dem Hintergrund der aktuellen Krise an Attraktivität gewinnen wird. Entscheidend ist, dass wir niemandem etwas aufzwingen wollen, sondern partnerschaftlich zusammen etwas erreichen möchten. 

Wollen Sie sich auch im Verkehrssektor engagieren?
Wir haben viele Jahre lang über Beteiligungen an Verkehrsunternehmen dafür gesorgt, dass gerade im ländlichen Raum eine vernünftige Verkehrsanbindung stattgefunden hat. Vor einigen Jahren sind wir dann ausgestiegen. Dennoch ist Verkehr eines der Themen, die man nicht regional begrenzen kann. Hier bedarf es intelligenter und guter Konzepte, insbesondere für den ländlichen Bereich. Wir brauchen Mobilitätslösungen, die garantieren, dass die Menschen öffentlichen Personenverkehr nutzen können, wenn sie ihn benötigen. Da wollen wir genau hinsehen: Wo könnte der LWL in diesem Sektor einen Mehrwert für die Region bringen?

„Ein Gesellschaftjahr ist sinnstiftend“

Sie sind Befürworter eines Gesellschaftsjahres für junge Menschen. Kritiker sagen, dadurch wird der Jugend ein weiteres Jahr gestohlen.
Das sehe ich anders. Ein Gesellschaftsjahr ist für junge Leute sinnstiftend und birgt viel Potenzial. Für mich selbst war es wichtig, etwas für die Gemeinschaft zu tun. Deshalb habe ich mich bei der Bundeswehr engagiert. Das hat auch mit einer inneren Haltung zu tun. Und wir dürfen nicht vergessen: Früher haben viele junge Menschen über den Zivildienst erst den Zugang zu Pflege und in andere medizinische Bereiche gefunden. Vielleicht können wir darüber auch Lücken beim Technischen Hilfswerk oder der Freiwilligen Feuerwehr wieder schließen. Und was die Diskussion darüber angeht, warum man nur jungen Menschen ein solches Jahr aufdrücken möchte, kann ich nur sagen: Es hindert ja niemand ältere Menschen daran, sich ehrenamtlich zu engagieren.

Mit dem Ruhrgebiet und dem Münsterland sind Ihnen Regionen mit unterschiedlichen Strukturen und Anforderungen bekannt. Wie kann man voneinander profitieren?
Die Situation macht mich in der Tat sehr nachdenklich. Dazu zwei Fakten: Wir haben einen enormen Fachkräftemangel. Gleichzeitig liegt die Arbeitslosigkeit beispielsweise in Gelsenkirchen bei mehr als 14 Prozent. Solche Quoten darf sich eine Gesellschaft nicht leisten. Dabei weiß ich sehr wohl, dass es schwierig ist, Menschen in Arbeit zu bekommen. Ich komme zwar aus dem Münsterland, aber nach meinen fünf Jahren als Kämmerer in Gelsenkirchen habe ich noch immer eine Schatzkiste voller wertvoller Erfahrungen im Ruhrgebiet stehen und weiß: Die Probleme durch den Strukturwandel in dieser Region sind extrem groß. 

LWL-Direktor Dr. Georg Lunemann. Foto: LWL/Kapluggin

LWL-Direktor Dr. Georg Lunemann. Foto: LWL/Kapluggin

Worauf führen Sie das zurück?
Man hat den Menschen, insbesondere in der Emscher-Lippe-Region, sehr lange suggeriert, dass die Arbeitsplätze in der Kohle- und Stahlindustrie erhalten bleiben. Dann hat man sie aber mit viel Geld aus der Arbeit genommen und Kohle aus Übersee importiert. Das Geld reichte aus, eine Generation mitzufinanzieren. Doch es gab keine Arbeitsplätze mehr. Die Sichtweise auf Arbeit als Selbstbewusstsein gebende Beschäftigung, die man braucht, ist vielen Menschen verloren gegangen. Im Ruhrgebiet gab es immer die schützende Hand der Großbetriebe, in denen man von der Lehre bis zum Deputat versorgt wurde. 

Und im Münsterland?
Hier musste man immer mal wieder den Arbeitgeber wechseln. Da war also mehr Bewegung drin. Die Regionen und die Menschen sollten mehr voneinander lernen. Ich glaube, dass man viele Brücken über die Lippe in das südliche Münsterland schlagen könnte, um auf der einen Seite den Arbeitskräftemangel in der einen Region mit dem Überangebot an Arbeitskräften aus der anderen Region auszugleichen. Dazu muss man aber einen langen Atem haben und die eine oder andere Grenze – physisch und mental – überwinden.

Sie sind in Dorsten geboren und in Olfen aufgewachsen, auch der neue NRW-Ministerpräsident ist Münsterländer, und die neuen Regierungspräsidenten stammen tatsächlich alle aus Westfalen. Kann das im NRW-Dauer-„Derby“ Rheinland – Westfalen etwas verändern? 
Ich bin kein Freund davon, Westfalen gegen das Rheinland auszuspielen. Beide Regionen haben etwas Besonderes. Vielleicht ist man in Westfalen noch etwas Regionen-bezogener, und der Rheinländer würde sagen, wir sind internationaler aufgestellt. Ich denke, Westfalen-Lippe hat für die Menschen, die hier leben, eine andere Bedeutung. Man weiß halt, wo man herkommt und das eint auch auf bestimmten Ebenen. Einen Wettbewerb aber sehe ich nicht. Als Landschaftsverbände sollten wir nicht so sehr auf die Landesteile achten. Wir gewinnen zusammen und wir verlieren zusammen. Wichtig ist natürlich, dass Westfalen in Düsseldorf präsent ist. 

Am Schluss bitte drei kurze Antworten: Sylt oder Sauerland?
Im Sommer Sylt, im Winter Sauerland

Sekt oder Selters?
Selters gegen den Durst und Sekt, wenn’s was zu feiern gibt

Sportdress oder Smoking?
Ich würde jetzt mal sagen, mir passt beides. Aber den Sportdress, den muss man nutzen, damit man im nächsten Jahr in den Smoking noch reinkommt.

Interview: Klaudia Sluka und Jürgen Bröker

Ein Interview aus dem WESTFALENSPIEGEL 05/2022.

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