Fast jeder Mensch erlebt im Laufe des Lebens Einsamkeitsgefühle. Foto: Tim Kramer, Ruhr-Universität Bochum
02.02.2024

Offenes Angebot an alle

Das LWL-Universitätsklinikum Bochum hat eine Einsamkeitssprechstunde ins Leben gerufen. Dr. Marco Kramer unterstützt Menschen darin, wieder Kontakte zu knüpfen.

Bei der ersten Begegnung mit Ratsuchenden in der Einsamkeitssprechstunde leistet Dr. Marco Kramer zunächst ein Stück Aufklärungsarbeit. Einsamkeit ist keine Krankheit, sondern ein weit verbreitetes Phänomen, lautet seine Botschaft. Mit diesem Gefühl einher geht meist ein großer Leidensdruck. „Man muss ein Stück weit lernen, damit zurechtzukommen und Strategien entwickeln, um wieder Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen“, sagt der Assistenzarzt in der Psychiatrie.

Die Sprechstunde wurde 2021 ins Leben gerufen, als Einsamkeit im Zuge der Corona-Pandemie stärker ins Bewusstsein der Gesellschaft rückte. Prof. Georg Juckel, Ärztlicher Direktor des LWL-Universitätsklinikums, wollte ein offenes Angebot für alle Menschen schaffen, die unter Einsamkeitsgefühlen leiden. Die Beratung ist unverbindlich und wird über die Krankenkasse abgerechnet. Trotzdem aber nehmen nur wenige Betroffene diese Möglichkeit wahr, die meisten davon sind Frauen, zeigt die Erfahrung der vergangenen Jahre. „Einsamkeit ist häufig mit Scham verbunden. Das macht es für viele Menschen schwieriger, sich Unterstützung zu holen“, beobachtet Kramer.

„Auch die Geburt eines Kindes kann einsam machen“

Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Einsamkeit in jedem Alter vorkommt und Frauen wie Männer betrifft. „Akut werden die Probleme häufig bei biografischen Veränderungen. Zum Beispiel, wenn Menschen in Rente gehen und das berufliche Umfeld wegbricht. Auch glückliche Ereignisse wie die Geburt eines Kindes können einsam machen, wenn Eltern isoliert mit einem Säugling zuhause sind“, erzählt der Arzt. Einige Patientinnen und Patienten erhalten dann den Hinweis auf die Einsamkeitssprechstunde durch die Telefonseelsorge, andere bekommen den Tipp durch das Jobcenter oder werden durch Medienberichte auf dieses Angebot aufmerksam. Mitunter nehmen Menschen sogar längere Wege aus dem Rheinland nach Bochum auf sich, um am LWL-Universitätsklinikum Unterstützung zu erhalten, berichtet Kramer.

In der Einsamkeitssprechstunde wird abgeklärt, ob das Leiden mit einer psychischen Störung verbunden ist, also beispielsweise mit einer Depression oder Angststörung. „Das kommt bei etwa der Hälfte der Ratsuchenden vor“, beobachtet der Arzt. Geht es lediglich um die Einsamkeit, dann hilft er mit praktischen Tipps für Begegnungen und Austausch weiter. „Es geht darum, schlechte Erfahrungen aus der Vergangenheit mit positiven Erlebnissen zu überschreiben. Grübeln führt dagegen nur zu negativen Schlussfolgerungen über mich selbst und andere.“ So rät Kramer beispielsweise dazu, eingeschlafene Freundschaften wieder aufzufrischen, an einem Lauftreff teilzunehmen oder auch eine der „Plauderbänke“ in Bochum zu besuchen, die im Zuge der Corona-Einschränkungen eingerichtet wurden. Unter dem Stichwort „Zeit für ein Gespräch“ sitzen dort ehrenamtliche Paten und reden mit Menschen, die das Bedürfnis nach Austausch haben. In Momenten, wenn die Einsamkeit drückt, haben sie ein offenes Ohr für Gespräche.

Annette Kiehl, wsp

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