Vor 25 Jahren hat das LWL-Landesjugendamt die "Westfälischen Pflegefamilien" ins Leben gerufen. Foto: LWL
29.02.2024

„Die Landesjugendämter werden gebraucht“

Im Interview mit dem Westfalenspiegel spricht die LWL-Schul- und Jugenddezernentin Birgit Westers über die Herausforderungen, vor denen die Landesjugendämter in NRW in den vergangenen 100 Jahren standen – und die sie noch heute beschäftigen.

Frau Westers, 100 Jahre Landesjugendämter in NRW. Welche Bedeutung hat dieses Jubiläum?
100 Jahre Landesjugendämter: das bedeutet 100 Jahre engagierte und erfolgreiche Arbeit für die jungen Menschen und ihre Familien in NRW. Das Jubiläum ist natürlich auch – ich denke, das können die Landesjugendämter ganz selbstbewusst für sich in Anspruch nehmen – eine Bestätigung für die gute und unverzichtbare Arbeit der Landesjugendämter Westfalen-Lippe und Rheinland, früher wie heute.

Wie war die Situation vor 100 Jahren?
Als vor 100 Jahren das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz in Kraft trat, haben die Provinzialverbände Westfalen-Lippe und Rheinland, die Vorgänger der heutigen Landschaftsverbände, entschieden, Landesjugendämter zu errichten. Trotz der langjährigen Expertise der Provinzialverbände in der Jugendhilfe war diese Entscheidung damals nicht unumstritten. Sowohl seitens der Berliner Ministerialbürokratie als auch aus den Kommunen kam Widerstand auf – in den Kommunen war insbesondere die Sorge vor einer zusätzlichen Aufsichtsinstanz groß. Heute, 100 Jahre nach ihrer Gründung, sind die Landesjugendämter in NRW ein wichtiger Teil der Kinder- und Jugendhilfe im Land und anerkannte Partner sowohl für die freien und öffentlichen Träger der Jugendhilfe als auch für die oberste Landesjugendbehörde, also das Jugendministerium Nordrhein-Westfalen. Die Landesjugendämter in NRW werden gebraucht – auch zukünftig!

Birgit Westers ist LWL-Jugend- und Schuldezernentin und Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter. Foto: LWL

Birgit Westers ist LWL-Jugend- und Schuldezernentin und Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter. Foto: LWL

Die Jugendämter vor Ort in den Kommunen sind vielen Menschen vertraut, das Landesjugendamt in der Regel weniger. Was sind die Aufgaben?
Die Landesjugendämter in NRW unterstützen die freien Träger der Jugendhilfe und die Jugendämter bei ihrer Arbeit vor Ort. In Westfalen-Lippe sind 91 Jugendämter und eine Vielzahl freier Träger unsere Partner. Wir unterstützen sie durch Fachberatung, gemeinsame Projekte, Modellvorhaben, Empfehlungen und Arbeitshilfen für die konkrete Arbeit vor Ort. Mit Bundes-, Landes- und eigenen Mitteln fördern wir Tageseinrichtungen für Kinder, Beratungsstellen, Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit sowie Modellvorhaben. Allein für die Landesregierung bewirtschaften die beiden nordrhein-westfälischen Landesjugendämter zahlreiche gesetzliche und freiwillige Förderprogramme im Umfang von jährlich etwa 5,1 Milliarden Euro. Damit bewegen wir immerhin rund fünf Prozent des gesamten Landeshaushaltes.

Was gehört noch zu Ihren Aufgaben?
In Westfalen-Lippe stellen wir auch die Aufsicht über rund 5000 Kindertageseinrichtungen und 500 stationäre Einrichtungen der erzieherischen Hilfe oder auch der Eingliederungshilfe sicher. Für die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe führen wir jährlich rund 500 qualifizierte Fortbildungen zu aktuellen Themen durch, mit denen wir rund 10.000 Personen erreichen. Inhaltlich sind wir mit nahezu allen relevanten Themen und Aufgabenbereichen der Kinder- und Jugendhilfe befasst. Bei allem was wir tun, geht es um ein gelingendes Aufwachsen und gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendlichen.

Angesichts von Flucht, Krisen und komplexen Familienkonstellationen: Vor welchen Herausforderungen stehen die Landesjugendämter heute?
Die Kinder- und Jugendhilfe insgesamt steht aktuell vor großen Herausforderungen – neu, auch für die Jugendhilfe, ist dabei die derzeitige Dynamik und die Kumulation verschiedener Krisen. Das hat Auswirkungen auch auf die jungen Menschen und ihre Familien. Die Bedarfe in der Kinder- und Jugendhilfe steigen, hinzu kommen immer wieder neue Anforderungen durch Bundes- und Landesgesetze. Gleichzeitig gibt es aber einen Fachkräftemangel auch im Handlungsfeld der sozialen Arbeit. Es steht nicht ausreichend qualifiziertes Personal zur Verfügung.

Wie macht sich das bemerkbar?
Der Fachkräftemangel trifft uns zum einen auch als Landesjugendamt ganz unmittelbar – auch wir können freie Stellen nicht mehr immer zeitnah qualifiziert besetzen. Das hat dann ganz praktische Konsequenzen zum Beispiel für die Bearbeitungszeiten. Zum anderen müssen wir im Rahmen unserer Aufgabenwahrnehmung, beispielsweise bei der Erarbeitung von Empfehlungen, neben dem fachlich wünschenswerten Standard immer auch das Machbare und die Rahmenbedingungen vor Ort im Blick behalten. Hier auch mit Blick auf den Fachkräftemangel und die großen fachlichen Herausforderungen immer die richtige Balance zu finden, das ist eine wichtige Aufgabe für die Landesjugendämter heute.

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Uns geht es darum, Antworten zu finden, die anpackend pragmatisch und zugleich fachlich abgewogen sind. So haben wir zum Beispiel gerade die stationäre Jugendhilfe in NRW für weitere Qualifikationen geöffnet. Die drängenden Themen auch für die Landesjugendämter sind im Übrigen dieselben wie für die Kinder- und Jugendhilfe insgesamt: von Kinderschutz und Inklusion über Diversität und Digitalisierung, von der Kita bis zur Organisation der Ganztagsbetreuung.

Gibt es Themen oder Projekte, mit denen das westfälische Landesjugendamt in den vergangenen Jahren Pionier war oder ist?
Im Sinne von Pionierarbeit hat sich das LWL-Landesjugendamt Westfalen frühzeitig in Sachen Kinder- und Jugendbeteiligung und Demokratiebildung auf den Weg gemacht. Leider müssen wir aktuell ja wieder erleben, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist – sie braucht zivilgesellschaftliches Engagement. Umso wichtiger ist es, dass wir jungen Menschen demokratische Haltungen vermitteln und sie beteiligen, indem wir ihnen Raum und Gelegenheit bieten, sich aktiv und wirksam einzubringen. Wir müssen junge Menschen wieder für Demokratie begeistern.

Wie geschieht das?
Das LWL-Landesjugendamt Westfalen hat sich schon vor über 20 Jahren mit dem Förderprogramm „Partizipation und Demokratie fördern“ auf den Weg gemacht, junge Menschen für Demokratie fit zu machen. Im Austausch mit Kommunalpolitik werden demokratische Prozesse in den geförderten Projekten für die jungen Menschen erlebbar. Mit diesem Förderprogramm konnten bis heute rund 270 Projekte in den Kommunen in Westfalen-Lippe unterstützt werden. In diesem Jahr werden wir im Rahmen des Programms bevorzugt Projekte gegen Antisemitismus und Rassismus fördern.


Dr. Georg Lunemann, der Direktor des LWL (v.l.), NRW-Kinder-und Jugendministerin Josefine Paul und LVR-Direktorin Ulrike Lubek würdigen auf dem Festakt die Bedeutung von 100 Jahren Landesjugendämtern in NRW. Foto: LWL/UrbanLesen Sie auch unseren Beitrag zum Festakt zu „100 Jahre Landesjugendämter NRW“ in Münster. „100 Jahre engagierte Arbeit“


Haben Sie weitere Beispiele?
2014 haben wir mit Unterstützung und Förderung durch das Land die „Servicestelle Kinder- und Jugendbeteiligung NRW“ errichtet. Die Servicestelle unterstützt rund um das Thema Beteiligung und Mitbestimmung und richtet sich mit ihrem Angebot insbesondere an junge Menschen – ganz gleich ob in Jugendparlamenten oder in nicht-organisierten Formen. Sie spricht auch Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker an und unterstützt Fachkräfte. Im Bereich der Heimerziehung haben wir mit der Fachstelle „Gehört werden!“, die junge Menschen in stationären Einrichtungen so unterstützt, dass sie nun mit dem „JvJ NRW“ eine eigenständige Interessenvertretung gegründet, die weiterhin von uns begleitet wird.

Was ist mit dem Verbund Westfälischer Pflegefamilien?
Er ist ein weiteres Beispiel für Pionierarbeit, den das LWL-Landesjugendamt Westfalen vor 25 Jahren ins Leben gerufen hat. Es handelt sich hier um den bundesweit größten Trägerverbund der Vollzeitpflege mit einheitlichen Qualitätsstandards. In den Pflegefamilien kümmern sich besonders geeignete Pflegeeltern um Kinder und Jugendliche, die nicht mehr bei ihren Eltern leben können, für die aber ein Heim, eine Wohngruppe oder die „klassische“ Pflegefamilie auch nicht der richtige Lebensort sind. Fachlich hat sich das Konzept bis heute bewährt. Immer schon haben wir der Kooperation mit anderen Akteuren – z. B. Schule, Gesundheitswesen und Justiz – einen hohen Stellenwert eingeräumt. Aktuell beschäftigen wir uns im Rahmen eines Projektes mit fünf anderen Bundesländern intensiv mit den Auswirkungen, die es auf ein Kind hat, wenn ein Elternteil inhaftiert wird. Die dadurch entstehenden Bedarfslagen sind gravierend und eine Herausforderung sowohl für die Kinder- und Jugendhilfe wie auch für den Strafvollzug.

Interview: Annette Kiehl, wsp

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