Annalena Hösel ist Stipendiatin des Forums Dirigieren des Deutschen Musikrates. Foto: Christian Lademann / lademann.media
16.01.2024

Durch Qualität überzeugen

2024 wird es bei den berühmten Bayreuther Festspielen erstmals mehr Dirigentinnen als Dirigenten am Pult geben. Häufig sind es aber immer noch Männer, die große Orchester leiten. Einige junge Dirigentinnen, wie Annalena Hösel aus Detmold, sind auf dem Weg nach oben.

Im vielfach preisgekrönten Drama „Tár“ von Regisseur Todd Field spielt Schauspielerin Cate Blanchett eine erfolgreiche, ihre Macht missbrauchende Dirigentin, die als erste Frau ein großes deutsches Orchester leitet. Während sich die fiktive Chefdirigentin Lydia Tár im Film erfolgreich bewährt, sieht die Realität in Orchestern und Theatern anders aus: Am Pult stehen zumeist Männer und nur wenige Dirigentinnen. Einer Statistik des Deutschen Musikrates zufolge werden nur vier der 129 Berufsorchester von Generalmusikdirektorinnen oder Chefdirigentinnen geleitet.

Mareike Jörling, die bei den Opernfestspielen in Heidenheim die musikalische Leitung der Kinderoper „Der Zauberer von Oz“ übernommen hat und seit Beginn der Spielzeit 2023/2024 am Theater Krefeld und Mönchengladbach engagiert ist, gehört zu den wenigen Ausnahmen. Sie habe bei der Berufswahl nie darüber nachgedacht, dass Frauen hier unterrepräsentiert seien, sagt Jörling, denn sie wolle als Dirigentin durch Qualität überzeugen, nicht als „Quotenfrau“. Die gebürtige Oldenburgerin absolvierte unlängst ihren Master in Orchesterleitung an der Hochschule für Musik in Detmold bei Prof. Florian Ludwig. Schon während ihres Studiums arbeitete sie mit namhaften Orchestern wie dem Philharmonischen Orchester Hagen, dem Philharmonischen Orchester Bremerhaven oder der Nordwestdeutschen Philharmonie Herford. Dennoch weiß Mareike Jörling, dass sie eine Vorreiterin ist, und hofft, dass weitere Studentinnen ihrem Beispiel folgen werden, auch damit es künftig mehr weibliche Vorbilder für den Beruf Dirigentin gibt.

Studium in Detmold

Annalena Hösel, Stipendiatin des Forum Dirigieren des Deutschen Musikrates, studiert ebenfalls bei Florian Ludwig in Detmold im Masterstudium Orchesterdirigieren. Sie weiß aus eigener Erfahrung, wie wenig Frauen in Leitungsfunktionen an Theatern und im Orchester arbeiten: „Je höher die Stellung im Kulturbetrieb, desto weniger Frauen finden sich in diesen Positionen.“ Hösel arbeitete bereits nach ihrem Bachelorabschluss mehrere Jahre als Solorepetitorin mit Dirigierverpflichtung am Anhaltischen Theater Dessau.

Auch die Studie des Deutschen Musikrates „Am Pult der Zeit?! Chancengleichheit in Berufsorchestern“ kommt zum Schluss, dass rund 40 Prozent aller Orchestermitglieder in Deutschland weiblich sind, Frauen in Führungspositionen aber nur knapp 22 Prozent ausmachen. Zwar haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Dirigentinnen wie Mirga Gražinytė-Tyla (Birmingham), Simone Young (Sydney), Joana Mallwitz (Nürnberg), Oksana Lyniv (als erste Dirigentin der Bayreuther Festspiele 2021) und Marin Alsop (Wien) zur Weltspitze empor dirigiert, doch prestigeträchtige Premieren, Festivalkonzerte oder Abonnement-Reihen in großen Häusern bleiben weitgehend den Männern vorbehalten.

Viele Vorurteile gegen Dirigentinnen

Stereotype und Vorurteile seien die größten Hindernisse auf dem Weg zur Gleichberechtigung, meint auch Komponistin Ulyana Saulina, die derzeit bei Prof. Mark Barden in Detmold ihr Masterstudium in Komposition abschließt: „Frauen werden eher ‚Soft skills‘ zugesprochen. Als ich mich für das Musikstudium entschieden habe, meinten einige, ich solle doch Musiklehrerin werden, das sei ein toller Beruf für Frauen.“ Dabei gebe es keine weiblichen oder männlichen Attribute in der Musik, bestätigen auch Annalena Hösel und Mareike Jörling, und ob jemand über Führungskompetenz verfüge, hinge nicht vom Geschlecht, sondern vom Charakter und den Fähigkeiten ab.

Dennoch halten sich genderspezifische Vorurteile à la „Frauen spielen Harfe oder Flöte, Männer Posaune und Schlagzeug“ hartnäckig. In der Tat sind im Orchester fast 94 Prozent der Harfenspieler weiblich, während nur zwei Prozent Frauen die Tuba spielen. Star-Harfenist Xavier de Maistre ist also eine absolute Ausnahme auf dem Konzertmarkt, ebenso wie Bass-Posaunistin Maxine Troglauer.


Musik

Dieser Artikel ist zuerst im WESTFALENSPIEGEL 06/2024 erschienen. Ihnen gefällt, was Sie hier lesen? Gerne senden wir Ihnen im Rahmen unseres Schnupperabos zwei kostenlose Ausgaben unseres Magazins zu. Hier geht´s zum Schnupperabo


 

Ulyana Saulina, die unlängst ihre erste CD „Observations“ veröffentlichte, ist froh, dass sich Komponistinnen heute nicht mehr hinter männlichen Pseudonymen verstecken müssen wie einst Fanny Hensel, die ihre ersten Lieder unter dem Namen ihres Bruders Felix Mendelssohn-Bartholdy veröffentlichte. Ihre Kommilitonin Zara Ali feiert ebenfalls bereits erste internationale Erfolge, ihr Werk „Red City“ wurde von der Korea Electro-Acoustic Music Society ausgewählt und im Rahmen des Seoul International Computer Music Festival einem großen Publikum vorgestellt. Und vielleicht dreht sich die Geschlechterverteilung in der Musikbranche künftig sogar um? Auf die Frage, ob er auch einmal Dirigent werden wolle, antwortete der kleine Sohn der amerikanisch-israelischen Stardirigentin Gisèle Ben-Dor nämlich ganz selbstverständlich: „Nö, das ist was für Mädchen.“

Matthias Schröder

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