Gefangene im Stalag 326. Foto: Hugo Lill, © LWL-Medienzentrum für Westfalen
15.04.2020

Ein Lager voller Leid

Im April 1945 wurden die Kriegsgefangenen des Stalag 326 befreit. Für die Gedenkstätte dort gibt es große Pläne. So wird etwa ein Konzept für einen Bildungs- und Begegnungsort erarbeitet. 

Die eingeritzte Zeichnung auf der Proviantdose zeigt einen Hof vor einer Berglandschaft. Daneben steht in kyrillischen Buchstaben ein Name, A. N. Sotzkow. Den Blechbehälter haben Archäologen des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe im Boden des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Stalag 326 (VI K) in Schloß Holte-Stukenbrock gefunden. Hat auf dem Geschirr jemand seine Heimat abgebildet, wie die Archäologen es vermuten?

Das Rekrutierungs- und Durchgangslager, eines der größten im „Dritten Reich“, wurde 1941 von der Wehrmacht im Zuge des Russlandfeldzuges errichtet. Mehr als 300.000 sowjetische Kriegsgefangene waren zwischenzeitlich hier, viele mussten im Ruhrgebiets-Bergbau arbeiten, aber auch in Industrieanlagen, Handwerksbetrieben oder auf Bauernhöfen, um die Kriegswirtschaft aufrechtzuerhalten. Die Zahl der sowjetischen Inhaftierten, die durch Hunger, Krankheiten und Gewalttaten im Stalag 326 zu Tode kamen, wird auf bis zu 65.000 geschätzt, 15.000 Menschen waren es mindestens, sagt Oliver Nickel, der Leiter der Gedenkstätte Stalag 326 (VI K). 

Die Essensschüsseln der Gefangenen waren zum Teil mit persönlichen Einritzungen versehen: Hier hat ein Gefangener eine Landschaft gezeichnet, vielleicht seine Heimat. Foto: LWL/N. Wolpert

Die Essensschüsseln der Gefangenen waren zum Teil mit persönlichen Einritzungen versehen: Hier hat ein Gefangener eine Landschaft gezeichnet, vielleicht seine Heimat.
Foto: LWL/N. Wolpert

Eine Ausstellung in der ehemaligen Arrestbaracke, eines von drei erhaltenen Lagergebäuden, informiert heute über die Geschichte des Stalag (Stammlager) am Rande der Senne. 1993 gründeten Geschichtsinteressierte einen Förderverein, der zur Historie des Lagers forscht, der die Dokumentationsstätte aufgebaut hat und betreut sowie Führungen und Bildungsveranstaltungen anbietet. Zudem versuchen die vorwiegend ehrenamtlichen Mitarbeiter, das Schicksal ehemaliger Inhaftierter aufzuklären und den Kontakt zu Angehörigen herzustellen.

Archäologische Ausgrabungen

Rund 100 Anfragen von Angehörigen erreichen jährlich die Gedenkstätte, bilanziert Oliver Nickel. Immer wieder kommen Angehörige, sogar aus großer Entfernung, um an dem Ehrenfriedhof sowjetischer Kriegstoter, der nach Kriegsende nahe des Lagers angelegt wurde, ihrer Verstorbenen zu gedenken. „Das ist sehr emotional, auch für uns“, berichtet Oliver Nickel.

Die archäologischen Ausgrabungen fanden im letzten Sommer auf einer Fläche von 600 Quadratmetern auf dem früheren Lagergelände statt, das heute als Ausbildungszentrum der Polizei dient. „Die Grabung hat über 1000 Fundstücke erbracht, die überwiegend aus der Lagerzeit stammen“, so Prof. Dr. Michael Rind, Leiter der LWL-Archäologie für Westfalen. Die Funde zeugen von den miserablen Lebensverhältnissen der Inhaftierten.

Blick in die Ausstellung im Stalag 326. Foto: Oliver Nickel

Blick in die Ausstellung im Stalag 326. Foto: Oliver Nickel

Die ersten sowjetischen Gefangenen fanden bei ihrer Ankunft nicht einmal Unterkünfte und sanitäre Anlagen vor und mussten sich Erdlöcher zum Schutz vor Regen und Kälte graben, erzählt Oliver Nickel. Baracken gab es zunächst nur für die Wachmannschaft. Geschirr und Besteck, wie es die Archäologen bei ihren Grabungen fanden, sei oftmals das letzte Hab und Gut der Inhaftierten gewesen. Auch Kriegsgefangene aus Frankreich, Belgien, Serbien, Polen und Italien waren im Lager untergebracht. Zumindest die Franzosen waren aber abgetrennt und hatten bessere Bedingungen: Ihnen standen zum Beispiel eine Kapelle und eine Bücherei zur Verfügung. 

Neue Ausstellung ist geplant

Auf das Leid insbesondere der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland machte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck 2015 aufmerksam, als er die Dokumentationsstätte Stalag 326 besuchte und dort den Zeitzeugen Lev Frankfurt traf. Gauck forderte, „das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Erinnerungsschatten herauszuholen“.

Und tatsächlich ist seitdem einiges in Bewegung geraten: Auf eine Initiative von Landtagspräsident André Kuper hat sich ein Lenkungskreis mit Politikern, Vertretern von Institutionen und Akteuren der Erinnerungsarbeit gebildet, der die Weiterentwicklung der Gedenkstätte Stalag 326 vorantreibt. So wird ein Konzept für einen Bildungs- und Begegnungsort erarbeitet. Eine neue Ausstellung und gedenkstättenpädagogische Programme sollen auch die Nachkriegsgeschichte des Lagergeländes einschließen. Direkt nach Kriegsende war dort zunächst ein Internierungslager für mutmaßliche Kriegsverbrecher und Funktionäre der NSDAP eingerichtet, später das Sozialwerk Stukenbrock für Vertriebene und Flüchtlinge, unter anderem aus der DDR. 

Ein amerikanischer Dokumentarfilm in der Gedenkstätte zeigt die Ankunft der US-Armee im Lager am 2. April 1945. Rund 8500 Sowjetbürger und 110 Franzosen erlangten damals die Freiheit.

Martin Zehren

  • Dieser Beitrag erschien zuerst in Heft 1/2020 des WESTFALENSPIEGEL. Zur Inhaltsübersicht gelangen Sie hier.
  • In der Serie „Erinnerungsorte“ erinnert der WESTFALENSPIEGEL an das Kriegsende vor 75 Jahren. Weitere Texte der Serie finden Sie hier.

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