Der Bochumer Stadtteil Werne im Januar 1945, wenige Monate vor Kriegsende. Foto: Stadt Bochum, Presseamt
07.05.2020

Als die Alliierten kamen 

Der Bombenhagel verwandelte Städte in Trümmerwüsten, allenthalben herrschte Chaos und Verwirrung. Über das Ende des Zweiten Weltkriegs in Westfalen.

Am 8. Mai 1945 um 23:01 Uhr mitteleuropäischer Zeit schwiegen die Waffen. Im französischen Reims und, zeitversetzt, in Berlin-Karlshorst unterzeichneten hohe deutsche Militärs die bedingungslose Kapitulation. Der Zweite Weltkrieg, ein bisher nicht da gewesener Raub-, Rassen- und Vernichtungskrieg mit mehr als 50 Millionen Toten, war – jedenfalls auf europäischem Boden – ebenso Geschichte wie das „Tausendjährige Reich“ selbst, das nun, nach zwölf mörderischen Jahren, zu Ende ging. 

Recht eigentlich hatte der Untergang des Nazi-Reiches bereits elf Monate früher begonnen, nämlich am frühen Morgen des 6. Juni 1944. Eine gigantische Armada alliierter Verbände war an der vergleichsweise schwach befestigten normannischen Küste gelandet und hatte innerhalb kürzester Zeit den propagandistisch für uneinnehmbar erklärten „Atlantikwall“, der die „Festung Europa“ vor einer Invasion schützen sollte, überwunden. Die deutschen Verteidiger hatten der Wucht dieses Angriffs wenig entgegenzusetzen. 

Jetzt war er da, der Zweifrontenkrieg, den die deutschen Strategen immer gefürchtet hatten. Und der Countdown lief. Schon im August war Paris befreit, im September folgten große Teile Belgiens und der südlichen Niederlande. Die alliierten Kampftruppen rückten unaufhaltsam auf die deutsche Westgrenze vor. Als erste deutsche Stadt fiel im Oktober 1944 Aachen in alliierte Hände. Deutsche Gegenangriffe in den Ardennen und in der Eifel erwiesen sich als sinnlos. 

Amerikaner am Rhein

Anfang März 1945 standen amerikanische Verbände am Rhein und überquerten ihn bei Remagen. Nur zwei Wochen später gelang den britischen Truppen unter Generalfeldmarschall Bernard Montgomery bei Wesel dasselbe. Von Süden und Norden her nahmen kampfstarke Verbände jetzt die Heeresgruppe B, die das Reich im Westen verteidigen sollte, in einen Zangengriff. Als sich die alliierten Kampfverbände am 1. April bei Lippstadt vereinigten, war der Ruhrkessel mit mehr als 300.000 deutschen Soldaten und fünf Millionen Zivilisten geschlossen.

Innerhalb des Kessels gab es hunderttausende größtenteils sowjetische und polnische Kriegsgefangene, Häftlinge und Zwangsarbeiter, die in der Industrie und in der Landwirtschaft jahrelange Entbehrungen und Demütigungen erlitten hatten und nun frei durchs Land zogen. Unter ihnen richteten Gestapo, SS- und auch Wehrmachtsangehörige noch in den letzten Kriegswochen blutige Massaker an, so in Warstein, Lüdenscheid, Hagen und Dortmund, wo fast 300 Menschen im Rombergpark und in der Bittermark per Genickschuss liquidiert wurden. 

„Zuletzt kamen die Fußtruppen“

Hier in Westfalen, zwischen Siegen, Paderborn und dem Ruhrgebiet, fand nun eine der letzten Schlachten des Zweiten Weltkriegs auf europäischem Boden statt. Der alliierte Vormarsch wurde begleitet von massiven Bomber- und Tieffliegerangriffen. Die „Wunderwaffen“, die Hitler und Goebbels versprochen hatten, blieben ebenso aus wie der „Endsieg“ selbst. Fanatisierte Funktionäre und Militärs warfen den alliierten Kampftruppen den „Volkssturm“ entgegen, das letzte schlecht bewaffnete Aufgebot, bestehend aus alten Männern und kaum erwachsenen Jugendlichen. Viele von ihnen fanden noch in den letzten Tagen einen sinnlosen Tod, wie der Film „Die Brücke“ von Bernhard Wicki aus dem Jahr 1959 eindrucksvoll zeigt. 

Amerikanische Soldaten im April 1945 unterwegs an der Kreuzung Geiststraße / Weseler Straße. Kriegsende 1945Foto: Stadt Münster / Sammlung Stadtmuseum.

Amerikanische Soldaten im April 1945 unterwegs an der Kreuzung Geiststraße / Weseler Straße. Zum Kriegsende 1945 hat die Stadt Münster eine Ausstellung zusammengestellt, die auch online zu sehen ist. Foto: Stadt Münster / Sammlung Stadtmuseum.

Aller Widerstand erwies sich als vergeblich. In Arnsberg sah das Ende so aus: „Am 12. April etwa um 15 Uhr“, notierte der 14-Jährige Hartmut Jaeckel, der spätere Jurist und Politologe, in sein Tagebuch, „wurde Arnsberg nach dreitägigem Artilleriebeschuss von amerikanischen Truppen genommen.“ Der Junge berichtete von Tod und Verderben, aber auch von freundlichen GIs, die bald Schokolade und Kaugummi an Kinder und Jugendliche verteilten.

Im Olper Ortsteil Neger im südlichen Sauerland hatte der Lehrer Otto Dick den Schülern seiner einklassigen Volksschule den Auftrag erteilt, ihre Erlebnisse und Beobachtungen beim Einmarsch der Amerikaner am 10. April schriftlich festzuhalten. Gerda Brune schrieb: „Zuletzt kamen die Fußtruppen; da waren Schwarze bei. Wie oft hatte ich Neger auf Bildern gesehen und nun sah ich richtige Neger… Neger marschieren durch unser Negerland!“ Dieser  Eintrag verrät Sprachwitz und – trotz aller Dramatik – Situationskomik.

Verheerender Luftkampf

Am 17. April 1945 war der Krieg zwischen Rhein, Ruhr und Weser zu Ende – drei Wochen vor der bedingungslosen Kapitulation. Bei den letzten Kämpfen starben etwa 1500 amerikanische Soldaten und über 10.000 deutsche. 

Aber es gab von Anfang an noch einen zweiten, parallelen Krieg, der nicht weniger verhängnisvoll und mörderisch verlief. Ein Krieg, der aus der Luft kam. Auch er war von Deutschland ausgegangen. Noch im September 1940 hatte Hitler getönt, er werde nach Guernica, Warschau und Rotterdam nun auch englische Städte gezielt „ausradieren“.

Hamm im Zweiten Weltkrieg: Zerstörte Lokomotiven auf dem Gelände des Güterbahnhofs nach einem Luftangriff der Alliierten am 5. Dezember 1944. Aus dem Nachlass Josef und Werner Viegener, Hamm. Foto: LWL-Medienzentrum für Westfalen

Hamm im Zweiten Weltkrieg: Zerstörte Lokomotiven auf dem Gelände des Güterbahnhofs nach einem Luftangriff der Alliierten am 5. Dezember 1944. Aus dem Nachlass Josef und Werner Viegener, Hamm. Foto: LWL-Medienzentrum für Westfalen

Als Joseph Goebbels nach der verlorenen Schlacht bei Stalingrad im Februar 1943 im Berliner Sportpalast eine fanatisierte Menge fragte „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ ertönte frenetischer Jubel. Das war eine inszenierte Propagandaveranstaltung, aber noch stand die Mehrzahl der „Volksgenossen“ in Treue zum Führer und zur Führung. Nur einen Monat zuvor hatten die Alliierten in Casablanca eine Intensivierung des Bombenkrieges vereinbart. Eine deutsche Großstadt nach der anderen fiel nun in Trümmer. Allein in Hamburg starben während der „Operation Gomorrha“ im heißen Sommer 1943 innerhalb weniger Tage mehr als 30.000 Menschen im Feuersturm. 

Bombenkrieg in Westfalen fordert 37.000 Tote

Und dieses Schicksal traf auch westfälische Städte, Dortmund, Münster, Soest, Siegen, Bielefeld und viele andere. Hunderttausende, die alles verloren hatten und nun vor dem Nichts standen, suchten auf dem Land eine neue Bleibe, oft in Ställen und Scheunen. „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“, heißt es im Alten Testament. Und so kam es nun auch. Die Bilanz: Der Bombenkrieg hat in Westfalen rund 37.000 Tote gefordert. 254.000 Wohnungen von insgesamt 1.518.000 im Jahr 1939 wurden völlig zerstört, 95.000 schwer, 110.000 mittelschwer und 205.000 leicht beschädigt. 

Allmählich begann die Siegesgewissheit zu bröckeln. Untergangsstimmung machte sich breit, Angst und Katzenjammer. Im Osten überschritt die „Rote Armee“ die deutsche Grenze im Januar 1945. Millionen verließen, vielfach unfreiwillig, ihre Heimat in Ostpreußen, Pommern und Schlesien und machten sich im eisigen Winter in Elendstrecks auf den Weg in eine ungewisse Zukunft. Viele kamen auf diese Weise auch nach Westfalen. Eine Völkerwanderung biblischen Ausmaßes, die für weitere Unübersichtlichkeit sorgte und neue Probleme schuf.

Städte in Trümmern

Während die Sowjets auf Berlin marschierten, befreiten alliierte Kampftruppen im Westen eine Stadt nach der anderen. Am Ostermontag 1945, dem 2. April, besetzten amerikanische und britische Truppen Münster. Von den einst 145.000 Einwohnern, die Münster 1942 zählte, waren lediglich 25.000 geblieben, die in Kellern und Ruinen dahinvegetierten. Der Journalist Paulheinz Wantzen, ein bekennender Parteigänger des Regimes, notierte an diesem Tag: „Scheußlich war es zu erleben, dass deutsche Frauen an die Straßen liefen und die Amerikaner um Zigaretten und Kaffee anbettelten… Und ‚deutsche‘ Jungens kletterten auf die Panzer und setzten sich zu den Amerikanern auf die Geschütze. So würdelos können wohl nur Deutsche sein!“

Für Soest, die alte Stadt am Hellweg, kam das Kriegsende vier Tage später. Der Archivar Wolf-Herbert Deus beklagte die Zerstörung der Stadt und schrieb am 7. April: „Nun sind wir Knechte der Amerikaner. Ich sah, wie vier bewaffnete Soldaten in das Haus von Dr. Michaelis eindrangen und mit vorgehaltenen Pistolen Wertsachen plünderten…“ Die in Jahrhunderten gewachsene historische Altstadt war in eine Trümmerwüste verwandelt. 

Eines der frühesten Luftbilder nach dem Zweiten Weltkrieg dokumentiert die verheerenden Zerstörungen in Münster - hier am Prinzipalmarkt und Lambertikirche. Zur online-Ausstellung der Stadt Münster zum Kriegsende vor 75 Jahren gelangen Sie hier. Foto: Presseamt Stadt Münster.

Eines der frühesten Luftbilder nach dem Zweiten Weltkrieg dokumentiert die verheerenden Zerstörungen in Münster – hier am Prinzipalmarkt und Lambertikirche. Zur Online-Ausstellung der Stadt Münster zum Kriegsende vor 75 Jahren gelangen Sie hier. Foto: Presseamt Stadt Münster.

Wenig später erreichte die britische Armee Bergen-Belsen, und die Leichenberge dort offenbarten den Mordcharakter des nationalsozialistischen Regimes einmal mehr. Am 15. April schließlich trafen amerikanische und sowjetische Verbände medienwirksam bei Torgau an der Elbe zusammen. Die Bilder dieser Begegnung gingen um die Welt. Der Mann, der das alles ausgelöst hatte, Adolf Hitler, erschoss sich am 30. April 1945 im Bunker seiner Reichskanzlei.

Tage später schwiegen nun also überall die Waffen. Deutschland lag danieder. Politisch, militärisch, moralisch. Das Land der Dichter und Denker war zu einem Land der Richter und Henker mutiert. Ein Paria unter den Völkern, verhasst und verachtet. Die Jubelbilder nach den „Blitzsiegen“ im Westen waren im nunmehr befreiten Europa ebenso wenig vergessen wie der Jubel derjenigen, die den totalen Krieg herbeigesehnt hatten. 

Ein geteiltes Land

Aber gab es sie wirklich, die immer wieder beschworene „Stunde Null“? Ja und nein, lautet die Antwort. Ja: Hier ging das 1871 gegründete Deutsche Reich schaurig zu Grunde. Die staatliche Ordnung war zusammengebrochen, allenthalben herrschte Chaos und Verwirrung. Nein: Denn das Leben, das schiere Überleben ging ja weiter. Der Autor Harald Jähner hat dies in seinem lesenswerten Buch „Wolfszeit“, das Deutschland und den Deutschen in der frühen Nachkriegszeit gewidmet ist, in folgende Worte gefasst: „So viel Anfang war nie, so viel Ende auch nicht.“

Anders als nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg besetzten die Siegermächte nun das deutsche Gebiet. Die östlichen Provinzen jenseits von Oder und Neiße wurden einer polnischen bzw. russischen Verwaltung unterstellt, Restdeutschland hingegen nach Maßgabe der Konferenzen von Casablanca und Jalta in vier Besatzungszonen geteilt, drei im Westen und die sowjetische im Osten. Aber die Allianz der Sieger erwies sich bald als brüchig, zu kontrovers waren die Vorstellungen einer Neuordnung Deutschlands und Europas. So trat an die Stelle des „heißen“ Krieges ein kalter, aber lang anhaltender. Winston Churchill, der britische Premier, sprach bald von einem „Eisernen Vorhang“, der zwei auseinanderdriftende Welten (und Weltanschauungen) fortan trennte. 

Das große Aufräumen

Am 5. Juni 1945 hatten die Siegermächte auch förmlich die oberste Regierungsgewalt im geschlagenen Deutschland übernommen. Westfalen wurde nun – wie ganz Nordwestdeutschland – britisches Besatzungsgebiet. „Zone“, wie es dann hieß. Feldmarschall Montgomery bezog die Villa eines Zigarrenfabrikanten in Lübbecke. Auf dem nahe gelegenen Rittergut Rothenhoff richtete sich die Führung der britischen Rheinarmee ein, der fortan die ausübende Gewalt in Westfalen oblag. Was folgte, war ein Sommer der Anarchie: Das Alte galt nicht mehr, das Neue noch nicht.

Die vielen Aufgaben, die zeitgleich zu bewältigen waren, erwiesen sich als nahezu unlösbar. Das große Aufräumen begann. Da mussten nicht nur die Trümmerwüsten in den kriegszerstörten Städten beseitigt werden, damit ein Neuaufbau möglich war, auch die Deutschen selbst mussten sich neu erfinden und Abschied nehmen vom Größenwahn. Entnazifizierung und Re-Education hieß das ambitionierte Programm. Nur: Wie macht man aus obrigkeitsgläubigen Untertanen demokratische Bürger? Das wurde ein langer, schmerzhafter Prozess.

Gegen das Vergessen

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Zunächst einmal galt es die Hauptkriegsverbrecher aufzuspüren, die dann auch 1946 in Nürnberg gerichtet wurden. Zeitgleich sammelten die Alliierten in ihren jeweiligen Zonen die nachrangigen NS-Funktionäre ein, die Landräte, Bürgermeister, Polizeipräsidenten, SS- und Gestapo-Chargen, die durch unbeschränkte Macht prächtig profitiert und das System auf allen Ebenen so effizient gemacht hatten. Sie kamen jetzt – jedenfalls in der britischen Zone – in genau die Lager in der Senne, in Eselheide und Staumühle, in denen ihre Schergen zuvor hunerttausende Kriegsgefangene gequält hatten. Hier hatten sie nun Gelegenheit, „Persilscheine“ zu sammeln und sich auf die anstehenden Prozesse vorzubereiten. Die allermeisten kamen als Mitläufer davon und konnten dann neue Karrieren starten. Wolfgang Staudtes Film „Die Mörder sind unter uns“, im Jahr 1946 in Berlin gedreht, weist hellsichtig auf eine Problematik hin, die die Bundesrepublik noch weiter beschäftigen sollte.

Aber es ging aufwärts. Epidemien und Seuchen größeren Ausmaßes blieben aus. Die Landwirtschaft erholte sich überraschend schnell und die Industrie – dank des Marshall-Plans – auch. 1947 riefen die Briten den Kunststaat Nordrhein-Westfalen ins Leben, dem sich Lippe bald anschloss. 1949 wurde das Grundgesetz verabschiedet und die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Eine wichtige Etappe für den Neuanfang stellte die Währungsreform dar, die den Deutschen die „D-Mark“ brachte, die bald zum Motor des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders werden sollte. Die Bundesdeutschen wurden wieder wer.  

Volker Jakob

Dieser Text erschien zuerst in Heft 1/2020 des WESTFALENSPIEGEL. Zur Inhaltsübersicht gelangen Sie hier.

Der Artikel ist Teil der Serie „Erinnerungsorte – Gegen das Vergessen“. Hier finden Sie sämtliche Beiträge der Serie.

 

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