„Biontech oder Moderna – das ist ein Luxusproblem“
Im Interview mit dem WESTFALENSPIEGEL spricht der EU-Abgeordnete Dr. Peter Liese über das Pandemiejahr 2021, Kinderimpfungen und Omikron. Auch die Fehler der Politik benennt er klar. Liese vertritt in Brüssel die Interessen der Region Südwestfalen, zudem ist er Arzt und Sprecher des Ausschusses für Volksgesundheit.
Herr Dr. Liese, zwischen Impferfolgen und neuen Pandemiewellen: wo stehen wir zum Ende des Jahres 2021?
Ganz ehrlich: zu Beginn dieses Jahres war ich optimistischer, was die Entwicklung der Pandemie angeht. Ich dachte, wir wären zum jetzigen Zeitpunkt bereits weiter. Die Delta-Variante und auch die nachlassende Wirkung der Impfungen stellen uns vor neue Herausforderungen. Die derzeit hohen Infektionszahlen und die Belastung der Intensivstationen schockieren mich wirklich. Dennoch sollten wir sehen, was alles für geimpfte Menschen wieder möglich ist: Weihnachtsmarktbesuche, Restaurantbesuche oder auch kleine Feiern.
Wir stehen in der vierten Pandemiewelle. Was ist falsch gelaufen?
Das größte Problem ist, dass wir in Deutschland eine zu niedrige Impfrate haben. Das habe ich angesichts der riesigen Nachfrage nach Impfungen im Frühjahr so nicht erwartet. Nun gibt es immer noch viel zu viele Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen oder die bislang nicht von Impfangeboten erreicht wurden. Dann hat sich das Übertragungsrisiko durch die Deltavariante des Virus deutlich erhöht und Omikron wird die Lage wohl noch einmal verschärfen. In dieser Situation hat Deutschland zu spät mit dem Boostern angefangen. Wenn wir bereits im September und Oktober vollen Einsatz für Drittimpfungen gezeigt hätten, wäre die Situation jetzt sicherlich weniger dramatisch.
Gab es falsche Signale aus Politik oder auch von Behörden?
Sicherlich. Dazu zählt, dass wir in Sachen Boostern zu lange auf Empfehlungen gewartet haben und uns nicht früher ein Beispiel an Israel genommen haben. Das dann noch über einen „Freedom Day“ Ende Oktober diskutiert wurde, während Wissenschaftler bereits einen Anstieg der Infektionszahlen voraussagten, ist – im Nachhinein betrachtet – eigentlich unsäglich. Klar ist aber auch, dass wir in Europa die Abläufe in einer pandemischen Situation schneller und effizienter organisieren müssen.
In Südwestfalen gibt es einen Ärztemangel. Wie können da die vielen Impfungen bewältigt werden?
Die Ärzte in der Region engagieren sich mit voller Kraft, ob in den Impfstellen oder bei den Impfmarathons in den Praxen. Auf der anderen Seite höre ich aber auch von einzelnen Ärzten, die trotz einer guten Honorierung der Impfungen den Beratungsaufwand scheuen. Das kann ich nicht nachvollziehen.
Sie sind Arzt und haben kürzlich in einer Impfstelle in Olsberg mitgearbeitet. Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?
Die meisten Menschen, die zu uns kamen, waren sehr dankbar, dass sie den Booster so schnell und unkompliziert bekommen haben. Es gab vereinzelte Diskussionen über Biontech und Moderna. Das ist angesichts von Milliarden Menschen, die weltweit keine Chance auf einen Impfstoff haben, ein wirkliches Luxusproblem! Es gab auch eine ganze Reihe von Erstimpfungen. Darunter sind einige Menschen, die angesichts von 2G-Regeln nun merken, dass sie ohne Impfung nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Und manche Menschen berichten auch, dass ihr Hausarzt nicht impft, und sie bislang nicht wussten, wo sie sich die Impfung abholen können. Vielleicht, weil sie nicht gut Deutsch sprechen. Diese Situation ist ein Armutszeugnis für Deutschland.
Was können wir von anderen europäischen Ländern lernen?
In Gesprächen mit Kollegen erfahre ich immer wieder, dass klare Regeln und eine gute Organisation helfen. In Irland gab es bereits im Sommer konsequente Kontrollen von Impfzertifikaten, während die 3G-Regeln in Deutschland erst spät eingeführt und mitunter recht lax gehandhabt wurden. Auch Portugal hat es geschafft, sehr viele Menschen mit Impfungen zu erreichen. Hier gab es für jeden Bürger eine persönliche Einladung zum Impftermin. Solche Strukturen würden uns in Deutschland sicher helfen.
Die Kinderimpfungen sind seit dieser Woche angelaufen. Sie haben sich für dieses Thema engagiert.
Ich habe mich für die Kinderimpfung eingesetzt. Ich habe in der Kinderklinik Paderborn gearbeitet und dort kleine Patienten mit Behinderungen oder schweren Lungenerkrankungen behandelt. Daher ist es mir wichtig, dass Kinder mit Vorerkrankungen oder besonderen Risikokonstellationen ein Impfangebot erhalten. Nun bin ich sehr froh, dass es die Zulassung und die Stiko-Empfehlung gibt. Klar ist aber auch, dass Kinder nicht die Verantwortung für die Pandemiebekämpfung tragen sollten. Erst durch erwachsene Impfverweigerer sind wir nun in einer Situation, in der wir über die Impfung von Kindern diskutieren, auch wenn die meisten ein deutlich geringeres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben. Ich empfehle die Impfung, ich habe aber auch Verständnis für Eltern, die erst einmal abwarten wollen.
Wie blicken Sie ins neue Jahr?
Mit Optimismus, aber auch mit Vorsicht. Unsere neue Herausforderung heißt nun Omikron. Diese Variante ist noch einmal deutlich ansteckender und wir können nicht unbedingt davon ausgehen, dass der Krankheitsverlauf harmloser ist. Wir brauchen daher wahrscheinlich mindestens für Risikopersonen einen angepassten Impfstoff. Das alles wird noch bis zum Sommer hin eine Herausforderung sein. Dann könnten wir endlich in eine endemische Lage kommen, in der Corona eine von vielen Virusinfektionen ist, aber nicht mehr unser ganzes Leben beeinflusst. Erst einmal blicke ich aber nun auf Weihnachten und das wird sicherlich schon einmal schöner als im vergangenen Jahr.
Interview: Annette Kiehl, wsp