02.06.2023

Der große Umbruch

Ewald Frie hat für sein Werk „Ein Hof und Elf Geschwister“ den Deutschen Sachbuchpreis gewonnen. In seinem Buch beschreibt er, wie sich das Leben auf dem Land verändert hat. Wir stellen Werk und Autor vor.

Kaum drei Monate nach Erscheinen lag Ewald Fries „Ein Hof und elf Geschwister“ schon in dritter Auflage vor und tauchte auf der Spiegel-Bestsellerliste und der Sachbuch-Bestenliste von „Zeit“, ZDF und Deutschlandfunk auf. Selbst angesichts von Fries‘ Bestseller „Die Geschichte der Welt. Neu erzählt“ (2019, 4. Auflage) ist ein solcher Erfolg eher ungewöhnlich. Denn sein Buch behandelt aus sehr persönlicher Warte einen regionalen Mikrokosmos – die Geschichte eines Hofes aus dem Münsterland.

Erzählt wird, wie sich dieser mittelgroße Hof aus der Nottulner Bauernschaft innerhalb von wenigen Jahrzehnten vollständig veränderte. Eine bis dahin festgefügte Welt geriet aus den Angeln. Noch in den 1950er und beginnenden 1960er Jahren bildete das bäuerliche Landleben eine eigene, weitgehend intakte Welt. Man blieb unter sich, selbst das nächste Dorf war „weit weg“, obwohl die Entfernung nur wenige Kilometer ausmachte. Aber es gab auch Restriktionen: Die Jungen durften sich beispielsweise keinem Fußballverein anschließen, weil es doch den Reiterverein gab. An Freizeitvergnügungen war für die heranwachsenden Kinder gar nicht zu denken, weil es auf dem Hof immer viel zu tun gab. Abwechslung boten nur die monatlichen Zuchtbullenauktionen in der Halle Münsterland, bei denen die männlichen Hofangehörigen mit anderen Bauern in Kontakt kamen. „Der monatliche Zuchtviehmarkt in der Halle Münsterland war so etwas wie das Hochamt der westfälischen Rotbuntzucht. Mein Vater und meine älteren Geschwister waren mittendrin.“

Jeder packt mit an

Im familiären Verbund waren die Rollen festgelegt, was vor allem für Frauen galt. Sie übernahmen den Haushalt, die Betreuung der jüngeren Geschwister (auch das Windelwaschen), die Garten- und leichte Feldarbeit, während die älteren Brüder den Vater bei der schweren Arbeit auf dem Acker oder bei der Ernte unterstützten. Besuchten sich die Landfrauen gegenseitig, präsentierten sie stolz ihre Einweckgläser, während die Männer das Vieh im Stall begutachteten. Nach dem Essen tranken die Frauen Wein und Likör. Die Männer spielten Doppelkopf bei Bier und Schnaps. Die Kinder ordneten sich den Gepflogenheiten des Hoflebens widerspruchslos unter, weil sie es nicht anders kannten.

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Der Hof wurde von Eltern, Kindern und anfangs von Hilfskräften bewirtschaftet. Jeder musste mitanpacken, denn finanziell kam man „so gerade“ über die Runden. „Das bäuerliche Leben der Fünfzigerjahre scheint dem Mittelalter näher als unserer Gegenwart“, heißt es bei Frie. Es war noch geprägt von kräftezehrender Handarbeit und der Versorgung der Kühe und Schweine auf der Weide, Pferden vor dem Pflug und einem großen Garten für die Selbstversorgung.

Traktoren statt Pferde

Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland, Verlag C. H. Beck, 191 S., 23 Euro. Foto Cover: C. H. Beck

Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland, Verlag C. H. Beck, 191 S., 23 Euro. Foto Cover: C. H. Beck

Doch dann kamen Melkmaschinen, Traktoren, Miststreuer und weitere technische Innovationen auf und veränderten das Leben in der Bauerschaft schlagartig. Die Zäsur läutete den Übergang zur industriell geprägten Landwirtschaft ein. Für Fries Vater war das eine große Herausforderung. Den neuen Anforderungen kam er nur widerwillig nach, sah aber ein, dass ihm keine andere Wahl blieb. „In einer Welt der Leistungsdaten, Computerausdrucke und Milchseen verloren aber Tierschauen und Zuchtviehmärkte, die optische Eindrücke zur Grundlage von Bewertung und Kauf gemacht hatten, mehr und mehr ihren Sinn.“ Sie wurden schließlich ganz eingestellt.

Angesichts großer gesellschaftlicher Umbrüche in den 1960er Jahren galten die einst angesehenen Bauern plötzlich als rückständig. Ihre Kinder rochen nach Stall und schämten sich. Das Einheiraten auf einen Hof verlor an Attraktivität. Wie Frie darstellt, war es die katholische Kirche, die in dieser Situation mit neuen Formen der Jugendarbeit Wege aus der engen bäuerlichen Welt anbot. Der Staat half bei der Ausbildung und der Hofübergabe. Für Frie und seine Geschwister war das Bafög-Modell ein Segen, weil es ein Studium und damit ein Stück Unabhängigkeit ermöglichte. „In den Siebzigerjahren war die Welt auf dem Land eine völlig andere“, resümiert der Autor.

25 Jahre Hofgeschichte

Ewald Frie, Geschichtsprofessor an der Universität Tübingen, erzählt all dies unangestrengt aus der Sicht eines Wissenschaftlers, der sich auf verlässliche Quellen beruft. Hierzu gehörte die Lektüre früherer Jahrgänge des „Landwirtschaftlichen Wochenblatts“ ebenso wie die Auswertung der wenigen Zeugnisse aus dem elterlichen Hofarchiv. Den Kern seiner Ausführungen bildeten jedoch Interviews, die er mit seinen Geschwistern führte. Die Ausführungen decken durch ihre Geburtsjahrgänge 1944 bis 1969 gut 25 Jahre Hofgeschichte ab. Frie, Jahrgang 1962, steuert eigene Erfahrungen bei. Er war das neunte von elf Kindern, die sich, bis auf den Hoferben, aus dem bäuerlichen Leben lösten. Geprägt von der aufgeschlossenen Mutter, ergriffen sie größtenteils pädagogische Berufe und stiegen gesellschaftlich auf. Die Lebensläufe dieser Generation bilden, wie Frie herausstellt, einen exemplarischen Spiegel jener Umbruchsjahre der BRD.

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Frie rekapituliert diese Entwicklung ohne jede Nostalgie, allenfalls mit leiser Wehmut. Auf seine Kindheit und Jugend blickt er positiv zurück. In dieser Hinsicht ist „Ein Hof und elf Geschwister“ eine Hommage an die Generation der Eltern. Sie sind, wie Frie schreibt, die „ungefragten Helden“ seines Buches. „Wir Geschwister tragen Spuren der Geschichte in neue Welten. Wir alle reisen in neue Zukünfte. Aber die Vergangenheit wird uns begleiten.“

Obwohl es nicht explizit herausgestellt wird, liefern Fries Ausführungen einen indirekten Kommentar zu den Romanen und Erzählungen eines Norbert Johannimloh („Appelbaumchaussee“), Ludwig Homann („Ada Pizonka“) oder Otto Jägersberg („Weihrauch und Pumpernickel“). Dort ist das Thema „Groß und stark werden auf dem Lande“ aus subjektiver Warte und mit adäquaten literarischen Stilmitteln beschrieben – die Grundbedingungen der Sozialisation sind identisch.

Walter Gödden

Dieser Beitrag ist aus Heft 3/2023 des WESTFALENSPIEGEL. Gerne senden wir Ihnen im Rahmen unseres Probeabos zwei kostenlose Ausgaben zu. Dazu einfach hier klicken.

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