Sandra Hüller wurde 1978 in Suhl geboren. Nach dem Abitur studierte sie Schauspiel in Berlin und spielte an mehreren Bühnen, bevor sie 2015 als Ensemblemitglied an die Münchener Kammerspiele ging. 2018 wechselte Hüller an das Schauspiel Bochum. Foto: Julia Sellmann
24.01.2024

Jeder Gedanke ist erlaubt

Sandra Hüller spielt in Bochum Shakespeare, Kleist und Heiner Müller – und ist nun für einen „Oscar“ als beste Hauptdarstellerin in dem Film „Anatomie eines Falls“ nominiert. Lesen Sie hier einen Archivbeitrag aus dem WESTFALENSPIEGEL 5/2019.

„Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage.“ Der berühmte Satz kommt ganz selbstverständlich aus Sandra Hüllers Mund. Sie könnte auch sagen: „Tja, so isses.“ Sie ist ganz in der Situation, natürlich, ehrlich, ohne einen Anflug von Theaterpathos. Es ist nicht das erste Mal, dass Shakespeares „Hamlet“ von einer Frau gespielt wird. Sandra Hüller macht die Rolle zum Ereignis, leidet, lacht, explodiert und findet immer wieder intensive, ruhige Töne. Sie ist festes Ensemblemitglied am Bochumer Schauspielhaus. Im Oktober hat sie gleich mit dem nächsten Stück Premiere, „Hydra“ nach einem Text von Heiner Müller, eine musikalische Performance. Sandra Hüller mag die „gewaltige Sprache“ des Dramatikers: „Als ich in der Schauspielschule war, haben wir eine Szene aus seinem Stück ’Zement’ gespielt. Das war ein wichtiges Erlebnis für mich.“

Sandra Hüller steht im Bochumer Schauspielhaus in der Spielzeit 2023/24 in "Der Würgeengel" auf der Bühne. Foto: Armin Smailovic

Sandra Hüller steht im Bochumer Schauspielhaus in der Spielzeit 2023/24 in „Der Würgeengel“ auf der Bühne. Foto: Armin Smailovic

Bekannt wurde die 41-Jährige durch ihre Rollen in anspruchsvollen Filmen. In Hans-Christian Schmids „Requiem“ spielte sie eine Studentin, die an Epilepsie erkrankt ist und glaubt, sie sei vom Teufel besessen. In „Toni Erdmann“ von Maren Ade ist sie die Tochter des Titelhelden, eine kalte Geschäftsfrau, die in sich das Erbe ihres Vaters, den anarchischen Humor entdeckt. Zwei von vielen grandiosen Rollen. Allerdings ist Sandra Hüller derzeit mehr auf der Bühne als in Film und Fernsehen zu erleben. „Es gibt nicht so viele interessante Angebote“, sagt die Schauspielerin im Gespräch. Nach Hollywood – wo „Toni Erdmann“ durchaus wahrgenommen wurde – will sie nicht wechseln. „Das ist wie eine Sekte, der man beitreten muss. Ich habe hier eine Familie und bin gern bei meinem Kind und meinem Mann.“

Intensive Zusammenarbeit mit Johan Simons

Sandra Hüllers Antworten wirken klar und durchdacht. Man spürt die funkelnde Intelligenz, die viele ihrer Bühnencharaktere ausmacht. Gerade wenn die Ebene ungebremster Leidenschaft hinzukommt. Mit Regisseur Johan Simons, dem Intendanten des Bochumer Schauspielhauses, arbeitet sie seit zwölf Jahren zusammen. „Wir müssen einander wenig erklären“, beschreibt Sandra Hüller. „Er bringt einen fantastisch in den Moment, ins Jetzt. Da gibt es eine Offenheit im Kopf und im Herzen.“ So entsteht eine Freiheit des Spiels. Es geht nicht darum, die einzig gültige Spielweise des „Hamlet“ zu finden. „Jeder Gedanke ist auf der Bühne erlaubt“, sagt die Schauspielerin. „Niemand in diesem Raum behauptet, Hamlet zu verstehen. Alle Menschen in diesem Stück sind auf eine Art versehrt.“ Jede Aufführung ist eine neue Annäherung, ein Versuch, sich dem Text und den Charakteren zu nähern. Wenn Sandra Hüller nicht auf der Bühne ist, sitzt sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen in der ersten Reihe und schaut denen zu, die gerade spielen. Das sind Momente, die sie besonders liebt. 

Diese Art des Theaters ist eine völlig andere als die, die sie in der Ausbildung an der knallharten und eher konservativen Ernst-Busch-Schauspielschule in Berlin erlebt hat. Offenheit und Freiheit sind die Grundlagen für Sandra Hüllers Spiel, in dem es nie nur ums Theater, sondern um das Leben überhaupt geht. In ihrer Familie wurde sie oft gefragt, wen sie den damit erreichen wolle. Klare Antwort: „Es muss für alle sein.“

Stefan Keim

Ein Beitrag aus dem WESTFALENSPIEGEL 05/2019.

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