Kreative Wiederbelebung
Gelsenkirchen-Ückendorf galt lange als abgehängt. Als Kreativquartier will sich der Stadtteil neu erfinden.
Wer den Reiz der Bochumer Straße entdecken will, muss genau hinsehen. Die einstige Prachtstraße Gelsenkirchens ist in die Jahre gekommen. Viele der Gründerzeitfassaden sind mit einer Rußschicht überzogen und mancher Laden steht leer. Dichter Verkehr, Baustellen und Verfall prägen den ersten Eindruck der Hauptstraße – typisch Ruhrgebiet. Ückendorf, nur zwei Straßenbahnstationen vom Gelsenkirchener Hauptbahnhof entfernt, galt viele Jahre als eine Art „No-Go“-Area mit viel Armut und zahlreichen Problemhäusern.
Der Wandel kam vor einigen Jahren mit Künstlern und Kreativen. Sie haben dort die Möglichkeiten genutzt, die Leerstände und günstige Mieten ihnen bieten: Kleine Galerien haben eröffnet, Grafik-Designer arbeiten in Co-Working-Flächen in alten Ladenlokalen zusammen und eine moderne Kneipenszene wächst langsam heran. Das alte Gasthaus „Haus Reichstein“ und die Heilig Kreuz-Kirche werden aufwändig saniert und könnten bald zu Leuchttürmen im Viertel werden. Ückendorf soll sich als Kreativquartier neu erfinden und damit auch den sozialen Wandel befördern, lautet in Gelsenkirchen die Hoffnung.
Keimzelle Halfmannshof
Ückendorf als kreatives Pflaster also: Was nach einer neuen Idee klingt, hat tatsächlich eine lange Tradition. Sichtbar ist diese am südlichen Rand des Stadtteils, an der Künstlersiedlung Halfmannshof. Gegründet 1931 auf dem Grund eines Bauernhofes, ist sie eine kreative Keimzelle in Gelsenkirchen. In den 1960er und 70er Jahren erlebte die Kolonie ihre Blütezeit und entwickelte sich zu einem Ort der künstlerischen Avantgarde im Ruhrgebiet.
Ein paar Fachwerkhäuser zeugen heute noch von der Vergangenheit dieses Ortes, nahe der Autobahn A40. Als Förderprojekt des „Kreativ.Quartier“-Programms des Landes NRW hat sich der Halfmannshof jedoch längst neu erfunden. Wohn- und Veranstaltungsräume wurden zeitgemäß im minimalistischen Design gestaltet und mit digitaler Technik ausgestattet. Viel wichtiger aber sei die offene Atmosphäre, betont Gabi Rottes: „Der Austausch zwischen Kunstschaffenden und Kreativen aus unterschiedlichen Sparten und Regionen steht für uns im Mittelpunkt.“ Die Architektin und Künstlerin lebt und arbeitet seit rund vier Jahren auf dem Halfmannshof und organisiert dort das „Co.laboratorium Daig“, ein Residenzprojekt. „Künstlerinnen und Künstler, aber auch Wissenschaftler finden hier für eine bestimmte Zeit einen ruhigen Ort, um ihre Ideen zu verwirklichen“, erklärt sie. Gerade etwas ältere Residenten schätzten die Abgeschiedenheit als Gegenpol zur quirligen Bochumer Straße. „Sie sind erstaunt, dass es in Gelsenkirchen einen solchen Ort gibt“, beobachtet Rottes.
Das Kreativquartier Ückendorf hat heute einen wichtigen politischen Stellenwert in Gelsenkirchen. Das Kulturreferat, die Wirtschaftsförderung oder auch Immobilienfachleute arbeiten dort zusammen. „Es geht darum, den Stadtteil gemeinsam in neue Bahnen zu lenken. Die Kreativwirtschaft ist dabei ein wichtiger Standortfaktor. Wir möchten die kulturelle Infrastruktur mit neuen Impulsen stärken und den überregionalen Austausch unterstützen“, sagt die Kulturreferatsleiterin Andrea Lamest. Residenzprogramme und Stipendien, Festivals und Netzwerke werden von der Stadt und auch aus dem „Kreativ.Quartier“-Programm finanziell unterstützt. Kurze Dienstwege zwischen Ämtern haben sich mittlerweile eingespielt. So wurden 2018 innerhalb weniger Tage schnelle Datenleitungen an der Bochumer Straße gelegt, um ein „Virtual Reality Festival“ im Stadtteil zu ermöglichen.
Steine bewegen
Die Voraussetzung für den Wandel in Ückendorf bilden aber nicht nur Kunst und Kreativität. Gerade wenn es um lange vernachlässigte Gebäude im Stadtteil geht, müssen auch Steine bewegt werden. Dies ist die Aufgabe der Stadtentwicklungsgesellschaft Gelsenkirchen. Das Büro der Geschäftsführerin Helga Sander liegt nur wenige Schritte entfernt von wichtigen Baustellen. Mit dem „Haus Reichstein“ soll ein vom Land gefördertes Modellhaus entstehen, in dem sich Interessierte ganz unmittelbar über die Potenziale von Gründerzeitbauten informieren können. Schließlich stand auch das 120 Jahre alte Gebäude kurz vor dem Abriss und wurde in einer umfangreichen Sanierungsaktion gerettet. Im Erdgeschoss soll ein Café eingerichtet werden. „Wir wünschen uns einen lebendigen Treffpunkt“, sagt Sander.
Schräg gegenüber vom „Haus Reichstein“ wird die Heilig Kreuz-Kirche zu einem Veranstaltungsort umgebaut. Mit ihrem großen Backsteinturm ist das Gotteshaus eines der spektakulärsten Kirchenbauwerke in der Region. Seit der Profanierung 2007 steht das denkmalgeschützte Gebäude jedoch mehr oder weniger leer. Noch in diesem Jahr, so der Plan, sollen dort Konzerte mit bis zu 700 Zuschauern stattfinden. Auch hier sind die Erwartungen groß: „Unser Ziel ist es, dass Leute aus anderen Städten und Stadtteilen nach Ückendorf kommen, das Umfeld und die Möglichkeiten des Quartiers entdecken. Hier gibt es zum Beispiel Potenziale für studentisches Wohnen“, so die Immobilienexpertin.
Die Grafikerin Sarah Rissel zählt zu den Kreativen in Ückendorf. Die junge Frau ist in dem Stadtteil aufgewachsen, lebt und arbeitet heute dort aus Überzeugung. Als Vorsitzende des Netzwerks „Insane Urban Cowboys“ engagiert sie sich für das Kreativquartier. Gemeinsam mit Gastronomen und Kulturschaffenden hat sie die „Interessengemeinschaft Nachtleben“ gegründet. Die Gruppe setzt sich für mehr Clubs, Subkultur und Szenetreffpunkte ein. Ein entscheidender Punkt für Ückendorf, ist Rissel überzeugt: „Es geht uns darum, über die Nachtgastronomie ein Umfeld zu schaffen, in dem junge Leute gern leben.“ Gleichzeitig beobachtet sie die Entwicklung in ihrer Heimat kritisch: „Die Mieten sind in den vergangenen Jahren teilweise gestiegen. Das kann für alteingesessene Bewohner schwierig werden. Hier darf niemand verdrängt werden“, sagt die Freiberuflerin. Rissel schätzt gerade den rauen Charme des Viertels – und die Aufbruchsstimmung: „In Ückendorf gibt es ein Machergefühl. Hier kann ich noch etwas bewegen.“
Annette Kiehl
Dieser Beitrag erschien zuerst im WESTFALENSPIEGEL 01/2021. Darin erfahren sie mehr zum Thema Ruhrgebiet im Wandel.
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