Michael Roes. Foto: Schöffling Verlag/Oliver Killig
24.06.2020

Literarische Welterkundung

Michael Roes’ Werk passt in keine Schublade, jetzt wurde er mit dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis des LWL ausgezeichnet.

Michael Roes hat bisher 13 Romane veröffentlicht – und fast alle spielen in der Ferne: in der saudischen Wüste, den Maghreb-Staaten, Mali, am Mississippi, in Afghanistan, Albanien, um nur einige Handlungsorte zu nennen. Die Aufenthalte des Autors in Jemen und Algerien zogen sich jeweils ein Jahr hin. Ein Muss, wie er erklärt. Denn nur so könne er seine Geschichten lebensecht erzählen. Körperliches, Gerüche, Atmosphäre, Geschlechterbeziehungen – all das könne man nicht am Schreibtisch erfahren, das müsse man schon vor Ort erleben.

Kaum ein anderer Autor hat sich in dieser Intensität in Form zeitgemäßer Romane mit der Lebenswelt anderer Kulturkreise beschäftigt. Für Roes findet der moderne Mensch erst durch radikale Fremderfahrung zu sich selbst. Gängige Heimatbegriffe greifen ihm viel zu kurz: Für Roes ist Heimat kein topographischer Ort, sondern ein hybrider Bezugsrahmen, der sich unter wechselnden sozialen und kommunikativen Bedingungen immer wieder neu konstituiere.

Diskurs mit literarischem Kanon

Auch Roes‘ Theater- und Filmprojekte spielen bevorzugt in fernen Ländern. Oft waren sie mit lebensgefährlichen Begleitumständen verbunden. Hierüber handelt sein aktuelles Buch „Melancholie des Reisens“. In 13 Essays beschreibt der Autor seine obsessive „Sehsucht“ und interkulturelle Grenzüberschreitungen. Und das alles in fortwährendem Diskurs mit einem geschlechtsspezifischen literarischen Kanon.

Denn für Roes ist der wahre Reisende immer auch ein Lesender. In Aden bucht er dasselbe Hotelzimmer wie einst der französische Dichter Arthur Rimbaud: „Unter genau diesen schwarzen Balken, von denen sich die Zecken und Wanzen nun auf mich stürzen, hat sich womöglich Rimbaud in schlaflosen Nächten gewälzt, das Leben im Allgemeinen und diese Stadt im Besonderen verfluchend.“ In Kabul sind die Filme und Romane Pier Pasolinis Bezugspunkte, in Tanger die Romane und Erzählungen der wilden 1960er, William S. Burroughs, Paul Bowles, Jack Kerouac.

Undergroundaktion mit einkalkuliertem Scheitern

Dort wollte Roes mit Studierenden Frank Wedekinds Theaterstück „Frühlings Erwachen“ auf die Bühne bringen, was eher schlecht als recht gelang. Ebenso abenteuerlich sein Versuch, in der israelischen Wüste Lessings „Nathan der Weise“ als moderne dreisprachige Oper zu inszenieren und zu verfilmen – eine Art Undergroundaktion mit einkalkuliertem Scheitern. Die Arbeit an solchen Projekten sei, so Roes, ein dynamischer kultureller Prozess, der mehr zähle als ein perfektes Endergebnis. „Melancholie des Reisens“ führt mehrere Unternehmungen auf, die letztlich ins Leere laufen und dennoch einen Wert an sich darstellten.

Auch in seinem Romanwerk wählt der Autor immer wieder unvertraute Wege, sucht das Risiko. Das galt schon für sein 1996 erschienenes Debüt „Rub‘ Al-Khali“, deutsch „Leeres Viertel“. Gemeint ist damit die größte Sandwüste der Welt auf der Arabischen Halbinsel. Der Roman war eines der meistbesprochenen Werke des Jahres 1997. Zwei Stränge bilden das Handlungsgerüst, berühren und durchdringen sich gegenseitig.

Der eine ist die Jemenreise eines heutigen jungen Wissenschaftlers, der in Südarabien den Zusammenhang von menschlicher Kultur und dem Wesen des Spiels erforschen will. Während der Anreise liest er einen blumigen, abenteuerlichen Reisebericht aus dem 18. Jahrhundert, der in dieselbe Gegend führte. Jenen Bericht hat es nie gegeben, Roes hat ihn aus verschiedenen Reisebeschreibungen zusammenkompiliert und eine eigene Sprache dafür erfunden. So wie er für den jungen Anthropologen der Jetztzeit eine eigene, sachlich-kühle Sprache erfand. Beide Ebenen sind nahtlos aneinandergeschnitten, also inszeniert, worauf es dem Autor in jedem seiner Werke, ob Roman oder Theaterstück, ankommt.

Monumentalromane

„Leeres Viertel“ ist ein Monumentalroman mit über 900 Seiten in der Taschenbuchausgabe. So umfangreiche Werke sind für Roes die Regel. Seine letzten Romane „Zeithain“ und „Herida Duro“ kamen auf 808 bzw. 584 Seiten. In „Zeithain“ stehen – untypisch für Roes – keine fremdländischen Themen im Vordergrund, sondern, wie es heißt, „zerrissene preußische Seelenlandschaften“. Die Hauptrolle spielt Friedrich der Große. Als junger Kronprinz bat er seinen Freund Hans Hermann von Katte, ihm bei der Flucht vor den Schikanen seines Vaters zu helfen. Die Sache flog auf. Der „Soldatenkönig“ statuierte ein Exempel und ließ von Katte unter den Augen seines Sohnes hinrichten.

Melancholie des Reisens erschien 2020 im Schöffling Verlag. 536 Seiten, 28 Euro. ISBN 978-3895611797

Melancholie des Reisens erschien 2020 im Schöffling Verlag. 536 Seiten, 28 Euro. ISBN 978-3895611797

„Herida Duro“ handelt von einer der albanischen „Schwurjungfrauen“, denen ein altes Gesetz erlaubt, als Männer zu leben und die Familientradition fortzuführen, sofern kein männlicher Nachfolger geboren wurde. Die Geschichte taucht in die archaische Welt eines kleinen, abgeschotteten albanischen Bergdorfes ein und führt schließlich nach Rom, wo die abtrünnige Hauptfigur Herida Duro für den Film arbeitet.

Michael Roes passe in keine literarische Schublade, fasste eine Kritik zusammen, er habe Anrecht auf seine eigene Schublade. Seine gewaltigen Romane „hinterlassen im Kopf des Lesers nachhaltige Eindrücke, als wäre man selbst dabei gewesen, auch wenn man nicht so recht sagen kann, was eigentlich passiert ist“.

Walter Gödden

Dieser Artikel erschien zuerst im WESTFALENSPIEGEL Heft 3/2020.

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