Filmstill aus „Dr. Mabuse, der Spieler I: Der große Spieler. Ein Bild der Zeit“, 1922, Regie Fritz Lang, Drehbuch Thea von Harbou, Uco-Film GmbH (Berlin), Foto: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden
13.10.2023

Welt im Wandel

Bewegende Bilder: Die Ausstellung „Expressionismus in Kunst und Film“ im Kunstforum Hermann Stenner in Bielefeld wirft ein Schlaglicht auf den Expressionismus – über herkömmliche Gattungsgrenzen hinweg.

„Dieser Film (…) ist etwas ganz Neues. Der Film spielt – endlich! endlich! – in einer völlig unwirklichen Traumwelt“, schreibt Kurt Tucholsky alias Peter Panter am 11. März 1920 in der Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“. Dieser Film, das ist der Horrorstreifen „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von Robert Wiene, der zwei Wochen zuvor in Berlin Premiere hatte. Darin erzählt der Protagonist Franzis die Geschichte des unheimlichen Schaustellers Dr. Caligari, der einen Schlafwandler auf dem Jahrmarkt der norddeutschen Stadt Holstenwall präsentiert. Nachts jedoch begeht der Somnambule Morde im Auftrag seines Herrn. Erst in der Schlussszene offenbart sich das Doppelbödige des Stummfilmklassikers: Denn Franzis ist der Insasse einer Nervenheilanstalt, die von Dr. Caligari geleitet wird.

Verstörend und angsteinflößend

„Robert Wienes ‚Das Cabinet des Dr. Caligari‘ ist der expressionistische Film an sich. Er greift viele Gestaltungselemente dieser Kunstrichtung auf“, sagt Christiane Heuwinkel, künstlerische Leiterin des Kunstforums Hermann Stenner in Bielefeld. Mit mehr als 100 Werken, darunter Gemälde, Zeichnungen, Grafiken und Skulpturen, sowie zahlreichen Filmstandbildern und -sequenzen beleuchtet das Museum in der Ausstellung „Expressionismus in Kunst und Film“ den Expressionismus über herkömmliche Gattungsgrenzen hinweg.

Filmstill aus „Das Cabinet des Dr. Caligari“, 1920Regie Robert Wiene, Drehbuch Carl Mayer und Hans Janowitz, Carl Mayer, la-Film-Ges. Holz & Co. (Berlin), Foto: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden

Filmstill aus „Das Cabinet des Dr. Caligari“, 1920
Regie Robert Wiene, Drehbuch Carl Mayer und Hans Janowitz, Carl Mayer, la-Film-Ges. Holz & Co. (Berlin), Foto: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden

Verstörend und angsteinflößend ist der „Caligari“-Film – und bildet damit die Stimmung seiner Entstehungszeit auf beeindruckende Weise ab. Nach einer mehr als vier Jahrzehnte währenden Phase des Friedens hatte der Erste Weltkrieg mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen die Menschen in Deutschland zutiefst verunsichert. „Der Fall ins Bodenlose ist die vorherrschende Lebenserfahrung auch der bildenden Künstler und der Filmemacher des Expressionismus“, so Christiane Heuwinkel.


Lippe wird 900

Dieser Beitrag erschien in Heft 5/2023 des WESTFALENSPIEGEL – Ihnen gefällt, was Sie hier lesen? Gerne senden wir Ihnen im Rahmen unseres Probeabos zwei kostenlose Ausgaben unseres Magazins zu. Hier geht’s zum Probeabo.


Im „Cabinet des Dr. Caligari“ setzen die gemalten und gebauten Kulissen mit ihren schiefen Wänden, stürzenden Linien und verzerrten Formen das von Existenzängsten und Kriegstraumata geprägte Gefühl jener Zeit um. Wie ein Ausschnitt aus dem Film wirkt das ein Jahr vor seiner Premiere entstandene Gemälde „Stürzendes Haus“ von Wilhelm Lachnit.

Zerrüttung in den Nachkriegsjahren

Ein Bankangestellter, der aus seinem geordneten, eintönigen Leben ausbricht (und das mit fatalem Ende) steht im Mittelpunkt des auf einem Theaterstück von Georg Kaiser basierenden Films „Von morgens bis mitternachts“, der ebenfalls 1920 erschienen ist. Parallel dazu erzählt der Künstler Bernhard Kretzschmar die Handlung in einer gleichnamigen Folge von acht Lithografien: Starke Schwarzweiß-Kontraste, kantige geometrische Formen und überzeichnete Fratzen illustrieren das zerrissene Innenleben des Protagonisten.

Christian Rohlfs: Tanzende, 1923 Foto: Kunsthalle Emden

Christian Rohlfs: Tanzende, 1923 Foto: Kunsthalle Emden

Mit der Ungleichheit zwischen den Profiteuren und den Verlierern des Ersten Weltkrieges befasst sich der Regisseur Robert Reinert 1919 in seinem filmischen Zeitdokument „Nerven“. Auch die bildenden Künstlerinnen und Künstler wie Käthe Kollwitz, Max Beckmann und Conrad Felixmüller zeigen in ihren Werken die Zerrüttung in den Nachkriegsjahren: versehrte und psychisch gebrochene Soldaten, erwerbslose und hungernde Menschen. So zerren in Käthe Kollwitz‘ berührender Lithografie „Brot“ zwei kleine Kinder an ihrer Mutter, die daran verzweifelt, ein kleines Stück Brot zwischen den beiden aufteilen zu müssen.

Kühlere Kunst

Um 1925 endet das Zeitalter des Expressionismus. Eine Ausstellung in der Mannheimer Kunsthalle präsentierte in jenem Jahr „Die neue Sachlichkeit – Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ und legte damit die Bezeichnung für einen neuen Kunststil fest. „Die Vertreterinnen und Vertreter dieser Richtung zeigen in ihren Werken scheinbar banale Themen des Alltags, oft mit höchster altmeisterliche Präzision, mal verzerrt in Karikatur und Groteske“, sagt Christiane Heuwinkel. Der Film „Der letzte Mann“ (1924) von Friedrich Wilhelm Murnau markiert eben diesen Übergang zu einer kühleren, veristischen Kunst.

Auf wunderbare Weise ergänzt wird die Ausstellung im Kunstforum Hermann Stenner durch das 33. Film+Musikfest der Friedrich Wilhelm Murnau-Gesellschaft Bielefeld (19.10 bis 5.11.). Eröffnet wird es – wie könnte es anders sein? – mit dem „Cabinet des Dr. Caligari“.

Regina Doblies

Die Ausstellung im Kunstforum Hermann Stenner in Bielefeld läuft vom 15. Oktober bis 25. Februar 2024, Infos hier.

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