Autoren und Fotografen tun sich zusammen für das "Experiment Heimat". Foto: WLB/Glück
06.04.2021

„Neue Impulse setzen“

Das Westfälische Literaturbüro in Unna veranstaltet dieses Jahr drei Großprojekte. Im Interview spricht Leiter Heiner Remmert über Literatur, Westfalen und Europa sowie über das „Experiment Heimat“.

Herr Remmert, das Netzwerk „literaturland westfalen“, kurz: „lila we“, veranstaltet das Festival „europa:westfalen“. Worauf dürfen sich Literaturinteressierte freuen?
Auf ein sehr breitgefächertes Literaturprogramm mit über 60 Veranstaltungen, die das Thema Westfalen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nehmen. Das Programm wird von Veranstaltern aus ganz Westfalen ausgerichtet und reicht von Lesungen und Poetry Slams über Digitalprojekte bis hin zu Ausstellungen. Es sind viele internationale Autorinnen und Autoren vertreten.

Was sind die Höhepunkte?
Einen zentralen Tag in Bad Oeynhausen haben wir bewusst auf den Europatag am 9. Mai gelegt. Er steht unter dem Umberto-Eco-Zitat „Die Sprache Europas ist die Übersetzung“ und wird sich der Übersetzung als Kulturtechnik und Kunstform widmen. Außerdem ist das Wanderbuch-Projekt eine tolle Sache. Der Autor Erich Grisar hat seinerzeit ein Buch quer durch Europa geschickt und künstlerische Stimmen eingefangen. Das hat das Fritz-Hüser-Institut in Form eines Digitalprojekts wiederholt. Aber wir haben auch viele weitere schöne Veranstaltungen mit dabei: eine Geocaching-Aktion, die Vorstellung eines Bands mit europäischen Aphorismen oder eine Konferenz zum Thema Städtepartnerschaften. 

Wie kam es zu der Europa-Idee?
Es ist das dritte Festival, das wir mit „lila we“ veranstalten. Das Netzwerk will zeigen, was es in Westfalen an literarischer Qualität und Vielfalt gibt und hat sich hier in der Region etabliert. Mit der Europa-Thematik wollen wir weiter herausgehen: Bei aktuellen Themen wie Brexit und Grenzschließungen will die Literatur zeigen, dass sie gesellschaftlich relevante Impulse setzen kann.

Der Literaturwissenschaftler Heiner Remmert leitet seit Mai 2020 das Westfälische Literaturbüro. Foto: WLB, Kresken

Der Literaturwissenschaftler Heiner Remmert leitet seit Mai 2020 das Westfälische Literaturbüro. Foto: WLB, Kresken

Wie reagieren Sie, wenn Veranstaltungen wegen der Pandemie nicht stattfinden können?
Uns ist sehr an einem klassischen Festival mit Präsenzveranstaltungen vor Publikum gelegen, das Digitale ist nicht unsere favorisierte Variante. Das Festival war ursprünglich bis Mai geplant. Wir haben aber jetzt die Möglichkeit, Veranstaltungen bis Ende des Jahres zu verschieben, auch mit Zustimmung des Landes und der LWL-Kulturstiftung, die Teile des Programms mit großen Beträgen fördern.

Sie leiten seit fast einem Jahr das Westfälische Literaturbüro als Nachfolger von Herbert Knorr. Zuvor waren Sie Projektmanager von „lila we“ und kennen viele literarische Akteure. Wie würden Sie die aktuelle westfälische Literaturlandschaft beschreiben? 
Enorm spannend und innovativ, mehr als viele vielleicht erwarten. Das war ja auch der Ursprungsgedanke von „lila we“, dass viele gar nicht mitbekommen, was hier Tolles passiert. Ein Paradebeispiel ist die Burg Hülshoff unter Leitung von Jörg Albrecht, der dort ganz fantastische neue Formate aufzieht. Und es hat auch spannende Leitungswechsel gegeben wie beim Literaturbüro OWL in Detmold, wo jetzt Karsten Strack neue Impulse setzen wird. Ich stelle aber auch eine konstant gute Basisarbeit fest: Es gibt unglaublich aktive Stadtbüchereien oder engagierte Einzelakteure wie Michael Scholz, der mit den „Poetischen Quellen“ ein international renommiertes Festival auf die Beine stellt.

Noch ein weiteres Großprojekt des Literaturbüros geht bald los, „Experiment Heimat“. Was steckt dahinter?
Es ist ein künstlerisches Rechercheprojekt, zu dem wir renommierte Autorinnen und Autoren sowie Fotografinnen und Fotografen eingeladen haben, sich ausgewählte „Heimatorte“ künstlerisch anzueignen. Letztlich wollen wir erforschen: Wofür braucht man diesen Begriff Heimat eigentlich und was bedeutet er heute? So wird sich Najem Wali der Kolvenburg im Kreis Coesfeld annähern. Oder Sharon Dodua Otoo wird gemeinsam mit dem Fotografen Peter Bialobrzeski die Lindenbrauerei Unna in Augenschein nehmen zum Thema Genuss: Wonach schmeckt Heimat? Oder in Dortmund geht es um Fußball und die Bolzplatzkultur. Im Anschluss entstehen von den Beteiligten Texte und Fotoserien, die wir für eine Wanderausstellung 2022 und einen hochkarätigen Text-Bildband aufbereiten. 

Wie wurden die Künstler ausgewählt?
Wir haben uns bewusst Künstler gesucht, die nicht aus Westfalen stammen, oder setzen sie zumindest nicht in ihrer originären Region ein. Viele von ihnen verfügen über einen familiären Migrationshintergrund und bringen den frischen Blick auf scheinbar Altbekanntes ein. Was löst beispielsweise das Hermannsdenkmal bei Wladimir Kaminer aus?

Unterwegs in Detmold für das "Experiment Heimat": Der Schriftsteller Wladimir Kamine. Foto: Jan Kopetzky

Unterwegs in Detmold für das „Experiment Heimat“: Der Schriftsteller Wladimir Kamine. Foto: Jan Kopetzky

Zudem steht das zehnte Internationale Krimifestival „Mord am Hellweg“ an. Wird das ursprünglich für 2020 geplante Programm im Herbst stattfinden?
Sofern die Pandemie das dann erlaubt, soll Mord am Hellweg als großes Jubiläumsfestival stattfinden. Das Festival unterscheidet sich nicht nur durch seine Größe und sein Renommee von unseren anderen Aktivitäten, sondern auch weil dort ganz andere Summen an Eintrittsgeldern fließen, die in die Kostenkalkulation gehören. Das heißt, es ist ein finanzielles Risiko, wenn das Festival doch spontan platzen sollte. Aber darauf sind wir zusammen mit der Stadt Unna als unserem Partner vorbereitet, es gibt einen Plan B mit Abstufungen sowie Alternativkonzepte. 

Wie hat das Publikum auf das Verschieben ins Jahr 2021 reagiert?
Erfreulicherweise sehr gut. Die Leute haben Verständnis gezeigt, sowohl die Förderer und Partner in der Region als auch das Publikum: Es sind kaum Karten zurückgegangen. 

Was sind Ihre weiteren Pläne im Literaturbüro?
Wir sind dabei, uns digital neu aufzustellen. Zukünftig setzen wir verstärkt auf eigene selbst produzierte Videos und wollen mit unserem Team Streaming-Formate erproben. Ansonsten wollen wir 2022 den „Literatursommer Hellweg“ weiterführen, ein Open-Air-Festival, das wir abwechselnd mit Mord am Hellweg planen. Und wir haben noch eine Idee für ein anderes Großprojekt, das mit einem Jubiläum 2022 zu tun hat – aber mehr verrate ich noch nicht.

Interview: Martin Zehren, wsp

Dieses Interview ist im WESTFALENSPIEGEL 2/2020 erschienen.

Lesen Sie auch im Bereich "Kultur"

Testen Sie den WESTFALENSPIEGEL

Ihnen gefällt, was Sie hier lesen? Dann überzeugen Sie sich von unserem Magazin