15.03.2021

Fotopionierin und Weltbürgerin

Erinnerung an die jüdische Reisejournalistin Lotte Errell aus Münster. Das Jüdische Museum Westfalen präsentiert ihr Werk in einer Ausstellung.

Ein Rückblick auf das vergangene 20. Jahrhundert vermittelt ein widersprüchliches Bild: Da vollzieht sich der Aufbruch in die Moderne, aber da sind auch zwei blutige Weltkriege und da ist der rassistisch motivierte Mord an Millionen Juden. Die Irrungen und Wirrungen der großen Politik haben viele aus der Bahn geworfen, aber andere, Glücklichere, haben wie durch ein Wunder überlebt. So wie Lotte Errell, die als Lotte Rosenberg 1903 in Münster in eine jüdische Familie hineingeboren wurde.

Lotte Errell Ehemann Herbert Sostmann im Irak, um 1940. Foto: Museum Folkwang, Essen / Nachlass Lotte Errell

Lotte Errell Ehemann Herbert Sostmann im Irak, um 1940. Foto: Museum Folkwang, Essen / Nachlass Lotte Errell

Lottes Vater, Bernhard Rosenberg, stammte aus Coesfeld und hatte sich als Pferdehändler in der Westfalenmetropole niedergelassen, ein tatkräftiger Mann, der sich im Verein zur Abwehr des Antisemitismus engagierte und seine Tochter auf eine katholische Mädchenschule schickte. Als Lotte sieben Jahre alt war, starb die Mutter. Ihr älterer Bruder, Arthur, fiel 1918 als deutscher Soldat bei Ypern. Nach Beendigung der Schule ging das unternehmungslustige Mädchen nach Köln, wo es seinen späteren Mann kennenlernte, den jüdischen Grafiker und Fotografen Richard Levy. 1924 heirateten die beiden und ließen sich anschließend in Berlin nieder. Hier gab er sich (und seiner jungen Frau) einen neuen Namen, den er aus den Anfangsbuchstaben seines Vor- und Nachnamens bildete: R+L = Errell. 

Levy, vier Jahre älter als Lotte, stammte aus Krefeld und hatte zuvor erfolgreich in Saarbrücken und Paris bearbeitet. Für Lotte war die Fotografie bisher nur Liebhaberei gewesen; jetzt perfektionierte sie ihre Kenntnisse und Fähigkeiten auf allen Gebieten der Lichtbildnerei unter seiner Anleitung. Levy gehörte zu den Pionieren des Neuen Sehens in Deutschland und beteiligte sich u.a. an der legendären Ausstellung „Foto und Film“, die 1929 in Stuttgart Premiere hatte und anschließend in vielen europäischen Hauptstädten zu sehen war.

Expedition an die afrikanische Goldküste

Lotte schlug einen anderen Weg ein. 1929 begleitete sie die Ethnologin Gulla Pfeffer und den Dokumentarfilmer Friedrich Dalsheim auf einer Expedition an die afrikanische Goldküste. Die Fotos, die sie von dort mitbrachte, wurden in zahlreichen Zeitschriften veröffentlicht und machten sie bald bekannt. Ihre 1931 als Buch erschienenen Reiseerinnerungen „Kleine Reise zu schwarzen Menschen“ wurde ein so großer Erfolg, dass der renommierte Ullstein-Verlag sie bereits ein Jahr später nach China schickte, wo sie weitere einfühlsame Reportagen aus dem geheimnisvollen „Land der Mitte“ lieferte.

1933 trennten sich die Errells. Ihre Ehe wurde geschieden. Die Machtübernahme Hitlers und der bald grassierende Antisemitismus bedeutet für beide einen tiefen Einschnitt. Richard emigrierte zunächst nach Prag und dann, 1937, nach Palästina, das damals britisches Mandatsgebiet war. Er arbeitete dort für die zionistische Bewegung und verantwortete später u.a. die endgültige Gestaltung der blauweißen Fahne und des Wappens des jungen Staates Israel. Lotte erhielt 1934 ein Publikationsverbot, so dass sie nur noch unter Pseudonym in Deutschland veröffentlichen konnte. Allerdings bereiste sie zu diesem Zeitpunkt bereits im Auftrag einer amerikanischen Bildagentur den Iran und Irak. Dort lernte sie ihren zweiten Mann kennen, den Arzt Dr. Herbert Sostmann, den sie 1935 heiratete.

Jung, unbekümmert und neugierig

Sostmann, der aus Peine in Niedersachsen stammte und Jude war wie sie, leitete im Irak im großes Krankenhaus in Bagdad. Obgleich ihr die Nationalsozialisten 1941 die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen hatten, galt sie den britischen Mandatsherren nach Ausbruch des Krieges nicht als jüdische Exilantin, sondern als potentielle deutsche Spionin. Eine Odyssee begann, die sie zuerst nach Palästina, dann nach Kenia und schließlich nach Uganda führte. Erst 1944 fanden Lotte und Herbert Sostmann wieder in Bagdad zusammen. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Vater, der 1942 nach Theresienstadt deportiert worden war, bereits zwei Jahre tot. 1952 kehrte das Ehepaar nach Deutschland zurück. Herbert Sostmann ließ sich als Facharzt in München nieder, wo er 1981 verstorben ist. Seine Frau überlebte ihn um zehn Jahre. 

Lotte Errell zählt zu jenen „neuen Frauen“, die im allgemeinen Aufbruch der 1920er Jahre ihr Leben in die eigenen Hände nahmen. Jung, unbekümmert und neugierig machte sie sich auf, die Welt in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit in Wort und Bild zu dokumentieren. Sie selbst, die aufgrund ihres Jüdischseins früh Ausgrenzung erlebte, begegnete den Menschen fremder Kulturen mit großem Respekt und einer Hingabe, die noch heute eine besondere Nähe und Unmittelbarkeit vermittelt. Das macht ihre Bilder und Reportagen so unverwechselbar. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland hat sie nicht mehr fotografisch gearbeitet, aber sie hat in ihren letzten Jahren noch erlebt, dass sich die Fotogeschichte an ihre frühen, bahnbrechenden Arbeiten erinnerte. Eine 1997 in Essen kuratierte Ausstellung machte sie einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Sie wird in Kürze im Jüdischen Museum in Dorsten zu sehen sein. So kehrt eine Weltbürgerin, deren Wurzeln in Westfalen liegen, mit ihren Bildern jetzt noch einmal in die Heimat zurück. 

Volker Jakob

Die Ausstellung „Lotte Errell – Reporterin der 1930er Jahre“ ist vom 12. März bis 9. Mai im Jüdischen Museum Westfalen in Dorsten zu sehen.

Dieser Artikel ist im WESTFALENSPIEGEL 01/2021 erschienen. Gerne senden wir Ihnen im Rahmen unseres Probeabos zwei Ausgaben kostenlos zu. Klicken dazu einfach hier

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