Geschichten vermitteln Geborgenheit
Petra Griese ist Mitinitiatorin der Veranstaltungen zum Weltgeschichtentag in Südwestfalen und Erzählerin. Damit hält sie eine sehr alte Kunst lebendig. Eine Kunst, die über viele Jahrhunderte eine der wenigen Unterhaltungsformen war. Heute leben wir in einer digitalisierten Welt. Über Streaming-Dienste oder Apps können wir uns ganze Bücher vorlesen lassen. Unterwegs und überall. Brauchen wir da noch die alten Geschichte live erzählt? Ein Gespräch mit der Erzählerin Petra Griese über das Erzählen.
Frau Griese, weshalb sind Geschichten für uns in unserer heutigen, digitalen Welt noch wichtig?
Geschichten bieten Nähe und Gemeinschaft. Das war schon immer so und ist auch heute ganz wichtig. Außerdem fordert das Erzählen auch immer die ganze ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums ein. Und es bewegt die Menschen. Wissen Sie, ich habe erst kürzlich vor Menschen, die an Demenz erkrankt sind, meine Geschichten erzählt. Es war toll zu sehen, wie sich nach und nach die Gesichter im Publikum entspannt haben. Die Menschen gehen mit, ihre Fantasie wird angeregt, sie lachen, manchmal kullern auch Tränen.
Woher kommt die ungebrochene Faszination für Geschichten?
Schon früher – etwa im Mittelalter – dienten die Geschichten der Unterhaltung. Aber es wurden auch Informationen weitergegeben. Damals gab es kein Internet, keine Zeitung oder andere Medien. Es gibt sogar Überlieferungen, wonach ein Mensch, der fremd in eine andere Gemeinschaft kam, eine Geschichte mitbringen musste, um überhaupt aufgenommen zu werden. Heutzutage versetzen uns Geschichten in eine andere Zeit. Wir können abtauchen, uns entspannen. Unsere Fantasie wird beflügelt. Vielleicht fühlen sich auch einige Menschen an ihre Kindheit erinnert, an dieses diebische Vergnügen, wenn man Geschichten gelauscht hat und schon eine Vorahnung davon hatte, wie sie wohl ausgehen könnten.
Spielt die Sehnsucht nach Geborgenheit auch eine Rolle?
Das glaube ich schon, ja. Die Menschen, die zu uns Erzählern kommen, suchen eine Auszeit vom Alltag und wollen sich in einer gewissen Geborgenheit wiederfinden. In dem Wissen, dass die – meisten – Geschichten gut ausgehen.
Was macht einen guten Erzähler aus?
Ganz wichtig ist der Kontakt zum Publikum. Ein guter Erzähler spürt, wie das Publikum reagiert. Das ist mir auch sehr wichtig. Ich gucke die Leute direkt an und sehe in ihren Augen, was in den Menschen vorgeht, was sie bewegt. Entsprechend kann ich die Geschichte schneller oder langsamer erzählen, noch weiter ausschmücken oder etwas straffen. Das ist ein Gespräch miteinander, obwohl ich allein vor dem Publikum erzähle.
Worin liegt der Unterschied ihrer Erzählweise zu einem guten Hörbuch?
Das ist nicht vergleichbar. Als Erzähler kann ich auf mein Publikum eingehen. Ich versuche, dass sich meine Zuhörer wohlfühlen. Das geht nur über den Augenkontakt. Ich nehme die Körpersprache im Publikum wahr, dementsprechend kann ich die Geschichte gestalten. Ich kann also leise, laut oder auch deutungsvoll erzählen – d.h. direkt in der Situation reagieren. Bei einem Hörbuch sieht der Vorleser sein Publikum nicht. Das ist der wesentliche Unterschied. Er kann sich nicht einfühlen und auch nicht einschätzen, ob seine Zuhörer noch etwas mehr Zeit benötigen, den letzten Satz zu verarbeiten. Er kann nicht auf Stimmungen eingehen.
Wie wichtig sind schauspielerische Fähigkeiten für das Erzählen vor Publikum?
Darauf kommt es nicht an. Ich mache mir aber sehr wohl vorher Gedanken: wie ist denn wohl der Charakter des Königssohnes oder der Charakter der Magd. Das versuche ich natürlich in der Stimme wiederzugeben. Vielleicht auch mal leicht angedeutet mit dem Körper. Aber es ist kein Schauspiel, das ich biete. Trotzdem können sich die Leute in ihrer Fantasie vorstellen, was ich erzähle. Das zeigen auch die Reaktionen.
Was macht eine gute Geschichte aus?
Das ist eine schwierige Frage. Vielleicht sag ich es mal so: Nicht jeder Erzähler kann auch jede Geschichte erzählen. Es gab schon des öfteren Situationen, in denen ich bei Kollegen zugehört und gedacht habe: wow, das ist eine tolle Geschichte, die möchte ich auch erzählen. Aber es ging dann nicht, weil die Geschichte nicht zu meiner Persönlichkeit und Erzählart passte. Jeder Erzähler, jede Erzählerin sollte nur die Geschichten aussuchen, die sie auch ansprechen. Das ist wichtig.
Kann denn jeder ein Erzähler sein?
Nein, das glaube ich nicht. Jeder kann reden, aber nicht jeder kann erzählen. Man muss den Zuhörer mitnehmen können. Ansprechend erzählen, vielleicht auch mitreißend sein. Durch eine bildhafte Sprache das Kopfkino der Zuhörer anregen.
Müsste es mehr Geschichten und Erzähler geben?
Ja. Weil es einfach so schön ist und bereichernd. Und vor allem, weil die Menschen dann auch wieder miteinander ins Gespräch kommen – über die Geschichten oder über die Erzähler oder über eigene Erfahrungen. Das ist doch toll.
Das Gespräch führte Jürgen Bröker