Unhaltbarer Schuss von Hartmut Heidemann (MSV Duisburg) auf das Tor von Schalke-Torwart Josef „Jüppken“ Elting, Duisburg, 19.02.1966. Foto: Marianne Müller/Horstmüller
17.01.2024

Legenden und Leidenschaft

Das Herz des Fußballs schlägt im Ruhrgebiet. Und das schon lange. Die Ausstellung „Mythos und Moderne. Fußball im Ruhrgebiet“ im Ruhr Museum in Essen wirft ein Schlaglicht auf die Kicker im Revier. Wegen des großen Erfolgs – mehr als 50.000 Besucher machten die Fußballausstellung zur erfolgreichsten Fotoausstellung auf Zollverein – wurde sie jetzt bis zum 20. Mai 2024 verlängert. Lesen Sie hier unsere Ausstellungsbesprechung aus Heft 3/2023 des WESTFALENSPIEGEL.

In kaum einer Region spielt Fußball eine so große Rolle wie im Ruhrgebiet. Davon zeugt eine Fotoausstellung in Essen, die auch das Spannungsfeld zwischen Tradition und Kommerzialisierung beleuchtet.

Das sieht wirklich gefährlich aus: Zum „Revierderby“ zwischen Schalke 04 und Borussia Dortmund kletterten anno 1961 etliche Anhänger hoch auf die Flutlichtmasten der Gelsenkirchener Glückauf-Kampfbahn, um einen besseren Überblick zu erhaschen. In Dortmund hockten viele Fans im Geäst von Bäumen. Damals waren solche waghalsigen Szenen normal. Heute sind derlei Risiken strikt verboten.

450 Fotografien aus 100 Jahren

Auf jeden Fall gilt: Es gibt kaum eine andere Gegend, in der Fußball so leidenschaftlich gelebt wurde (und wird) wie im Revier. Von diesem Lebensgefühl zeugen nun im Essener Ruhr Museum auf der Zeche Zollverein rund 450 Fotografien aus rund 100 Jahren, die viele Aspekte des Fußballs im Ruhrgebiet aufgreifen.

Jubel von Schalker Spielern über den Ausgleich im Revier- derby gegen den BVB, Dortmund, 25.11.2017. Das Spiel endete 4:4. Foto: RuhrMuseum/Maik Halter/Imago

Jubel von Schalker Spielern über den Ausgleich im Revier- derby gegen den BVB, Dortmund, 25.11.2017. Das Spiel endete 4:4. Foto: RuhrMuseum/Maik Halter/Imago

„Mythos & Moderne“ heißt die Schau. Tatsächlich kann man hier beobachten, wie sich die Mythen des regionalen Fußballs vor industriellen Kulissen und besonders im Umfeld des Bergbaus herausgebildet haben und wie sie später in eine Zeit zunehmender Kommerzialisierung mit Medien- und Reklamerummel geraten sind, wobei freilich noch nicht alle Traditionsstränge gerissen sind. Gerade im Ruhrgebiet legt man Wert auf möglichst authentische Nachklänge der alten Zeiten. Zumindest auf den Tribünen. Allerdings stilisieren sich heute auch im Ruhrgebiet die Spitzenspieler so PR-gerecht wie in anderen Breiten.

Reichlich Kohle – großer Erfolg

Das Ruhr Museum, das diesmal eng mit dem Deutschen Fußballmuseum in Dortmund kooperiert, verfügt über phänomenale Fotoschätze. Der gesamte Bestand umfasst etwa vier Millionen Aufnahmen, darunter rund 60.000 Bilder mit Fußball-Motiven im engeren und weiteren Sinn. Es geht ja längst nicht nur ums Kicken, sondern um den ganzen sozialen Zusammenhang, aus dem dieser Sport hervorgewachsen ist.

Wohl kein reiner Zufall: Just als die Ruhrzechen die allermeiste Steinkohle förderten, machten Revier-Vereine die deutsche Fußballmeisterschaft zumeist unter sich aus. 1955 war Rot-Weiss Essen an der Reihe, 1956 und 1957 folgte Borussia Dortmund, 1958 schließlich Schalke 04. Hunderttausende kamen jeweils, um ihre Meistermannschaften daheim zu empfangen. Vom FC Bayern redete damals noch niemand.

Nostalgie garantiert

In dieser Ausstellung bekommen Vereine wie der MSV Duisburg (vormals Meidericher SV), Rot-Weiss Essen oder Rot-Weiß Oberhausen ihre gebührenden Auftritte. Auch einst hochklassige Clubs wie STV Horst-Emscher, die es heute nicht mehr gibt, spielen eine Rolle. Nostalgie ist garantiert. Und wie ging das mit dem Bergbau weiter? Als die Zechen nach und nach schließen mussten, übten Revier-Vereine symbolische Solidarität mit den „Kumpeln“. Kein Wunder, dass selbst Spielertunnel in Gelsenkirchen und Bochum den Gängen unter Tage nachempfunden sind.


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Wir sehen viele eindrückliche Bilder, in denen sich die ärmliche Schäbigkeit der Umstände und unbändige Leidenschaft verbinden – Szenen von schlammigen Bolzplätzen und staubigen Aschefeldern, an deren Rand Blessuren möglichst ohne ärztlichen Beistand nach Kräften gelindert wurden. Schon eine rissige Behandlungs-Liege, immerhin vorhanden, lässt auf generelle Schlichtheit schließen. Umso lauter meint man den Torschrei jenes völlig verdreckten Spielers auf einem vermatschten Platz zu hören. Allen widrigen Umständen getrotzt und auch noch gewonnen, das war das höchste der Gefühle. Großes Geld und Glamour kamen erst später und eher anderswo.

Fußballfreunde in Essen, 1967 Foto: Anton Tripp/Fotoarchiv Ruhr Museum

Fußballfreunde in Essen, 1967 Foto: Anton Tripp/Fotoarchiv Ruhr Museum

Überhaupt geht die Ausstellung vielfach an die Wurzeln des Revierfußballs: Da sind die Fans von 1935, die noch mit Schlips und Knickerbocker-Hosen zum Spiel pilgerten. Damals sprach man noch von „Schlachtenbummlern“. Ästhetisch besonders überzeugend sodann das 1954 entstandene Foto von Essener Zuschauern, die allesamt damals übliche Hüte tragen, was in der Masse einen hinreißenden Effekt ergibt.

Fankultur im Fokus

Anrührend diese Ansicht: Nachkriegskinder kicken vor behelfsmäßigen Nissenhütten in Castrop-Rauxel. Es gab noch den sprichwörtlichen Straßenfußball. Selbst der spätere Nationaltorwart Manuel Neuer wird noch 2010 in einem Moment gezeigt, in dem er über und über mit Schlamm bespritzt ist, was dem hartnäckigen Image der Region zu entsprechen scheint. Da spielte er noch für Schalke.

Zahlreiche Aufnahmen beleuchten die Fankultur, beispielsweise anhand der symbolüberfrachteten „Kutten“, die in den Stadien Einzug halten. Dazu all die feuchtfröhlichen Siegesfeiern, aber auch die untröstliche Verzweiflung nach Abstiegen. Es spielen sich ersichtlich wirkliche Dramen ab. Sollte man’s noch nicht gewusst haben, so begreift man ganz nebenbei, dass es im Revier – trotz aller Rivalität – auch grundlegende Gemeinsamkeiten gibt, die tief in die Historie des Alltags, der Arbeit und des Sports reichen.

Der weite Weg des Frauenfußballs

Eine ganz eigene Geschichte erzählt jenes Foto, auf dem ein kleines Mädchen zum Geburtstag einen Fußball geschenkt bekommt, und zwar schon 1967. Noch Jahre später machte sich ein TV-Moderator wie Wim Thoelke unsäglich über Frauenfußball lustig. Seither war es ein weiter Weg.

Star-Spielerin aus Witten: Alexandra Popp im Trikot der Fußball-Nationalmannschaft, Bielefeld, 24.11.2017, Foto: Jürgen Fromme/firo sportphoto

Star-Spielerin aus Witten: Alexandra Popp im Trikot der Fußball-Nationalmannschaft, Bielefeld, 24.11.2017, Foto: Jürgen Fromme/firo sportphoto

Zur Ikone des Fußballs ist unterdessen eine überwältigend großformatige Digital-Fotografie von Andreas Gursky geworden, sie zeigt die „Gelbe Wand“, also die Südtribüne im Dortmunder Stadion. Der hochartifizielle Zugriff aufs Thema nimmt dem Anblick nichts von der imposanten Wirkung.

Von Licht und Schatten

Natürlich gibt es auch ein Kapitel über Spieler-Legenden, allen voran Helmut Rahn, der – wie passend – im Schatten der Essener Zeche Zollverein aufgewachsen ist und 1954 den legendären WM-Sieg über Ungarn mit zwei von drei deutschen Treffern besiegelt hat. Mit ihm hat auch eines der ganz wenigen dreidimensionalen Objekte zu tun, die man der Fotoschau beigegeben hat: das originale WM-Trikot, das Rahn an jenem 4. Juli 1954 im Berner Wankdorf-Stadion getragen hat. Wollte man Fußball für eine Ersatz-Religion halten (wofür es reichlich Gründe gibt), so wäre dies eine „Reliquie“ oder Devotionalie sondergleichen. Eine noch etwas unbeholfene Frühform von Glanz und Gloria vermittelt das Bild von 1955, auf dem Rahn mit der Schauspielerin Romy Schneider „posiert“, so gut er es eben vermag.

Vollends auf dem Boden der Tatsachen befindet man sich beim Betrachten des Dribbelkönigs „Stan“ Libuda, der 1975 etwas linkisch vor seinem Tabak- und Lotto-Laden steht. Solche Büdchen waren seinerzeit ein typisches Tätigkeitsfeld für ausgediente Spieler, die noch längst nicht solche Unsummen verdient haben wie heute. Es scheint, als fremdele Libuda mit der ungewohnten Umgebung, als fühle er sich nicht so recht wohl in seiner Haut. Welch ein Kontrast zu jenem Bild vom Börsengang des BVB, aus dem einem nackte Kurs-Ziffern entgegenleuchten! Die Kälte des Kapitals…

Auch andere Schattenseiten werden nicht ausgeblendet, am schmählichsten sicherlich das Hitlergruß-Spalier zum Einlaufen Schalker Meisterspieler 1935. Auch kommt am Rande der Bundesliga-Skandal um Bestechungsgeld ebenso vor wie die fatale Schalker Liaison mit dem russischen Sponsor Gazprom. Auf gewaltsame Szenen aus den Stadien hat man jedoch weitgehend verzichtet. Gut so. Es ist ja wohl ohnehin klar, wie das aussieht.

Bernd Berke

„Mythos & Moderne. Fußball im Ruhrgebiet“, Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Essen. Verlängert bis 20. Mai 2024 Mo. bis So. 10–18 Uhr. Weitere Infos finden Sie hier

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