Pfarrer Peter Kossen beim Protest vor einer Fleischfabrik. Foto: Gudrun Niewöhner, Bistum Münster
16.06.2021

„Menschenverachtendes System“

Vor einem Jahr sorgte der Corona-Ausbruch in der Fleischfabrik von Tönnies in Rheda-Wiedenbrück für Schlagzeilen. Alles sollte besser werden für die Arbeiter: Unterkünfte, Bezahlung, Arbeitsbedingungen. Was hat sich getan? Ein Gespräch mit Pfarrer Peter Kossen, der sich seit vielen Jahren gegen moderne Sklaverei und für faire und würdige Arbeitsbedingungen einsetzt.

Herr Kossen, haben sich die Bedingungen für die Arbeiter in den Fleischfabriken seit dem vergangenen Jahr verbessert?
Ja, es hat sich etwas verändert. Aber gleichzeitig gibt es massive Bemühungen der Fleischindustrie die Lücken in den gesetzlichen Vorgaben zu finden und diese auch auszunutzen. Was ganz deutlich wird: Ich kann keine Haltungsänderung erkennen gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die vorwiegend aus Osteuropa stammen. Man könnte ja auch sagen: Wir wertschätzen die Menschen, die zu uns kommen und die eine Arbeit machen, für die wir hier nur schwer Personal finden. Stattdessen ist es nach wie vor ein menschenverachtendes System, in dem die Arbeiter verschlissen werden wie Material.

Gibt es auch positive Veränderungen?
Positiv ist zum Beispiel die Verabschiedung des Arbeitsschutzkontrollgesetzes. Dadurch ist die Werkvertragsarbeit ganz verboten und die Leiharbeit in Teilen. Das ist aber auch nur ein erster Schritt. Ich bin sehr froh darüber, aber konkret bedeutet das auch, dass erst einmal nur die Leute in Schlachthof und Zerlegung davon profitieren. Die Menschen in Reinigungsdiensten, der Verpackung oder Logistik der Fleischindustrie nicht. Außerdem wurden vielfach auch die Sklaventreiber, die Subunternehmer und Vorarbeiter, mit eingestellt. Damit setzt sich das Unter-Druck-setzen, Erpressen und Demütigen weiter fort.

Was ist mit der Einführung des Mindestlohns?
Es stimmt: Der Mindestlohn ist der Fleischindustrie abgerungen worden. Auch das ist gut. Aber entscheidend ist, wie gut so ein Gesetz durchgesetzt und kontrolliert wird.

Sie haben da Zweifel?
Schon in den letzten Jahren ist das Personal für Kontrollen in diesem Bereich stark zurückgefahren worden. Daher gibt es diese Kontrollen kaum. Ein Beispiel: Das Arbeitsschutzgesetz feiert als Erfolg, dass bis 2026 eine Kontrolldichte von fünf Prozent erreicht werden soll. Das bedeutet, pro Jahr müssen fünf Prozent der Betriebe in der Fleischindustrie damit rechnen, kontrolliert zu werden. Statistisch heißt das, etwa alle 20 Jahre kommen die Kontrolleure vorbei. Und das in einer Branche, die dafür bekannt ist, dass sie mafiöse Strukturen hat.

Sie sprechen von Sklaverei und mafiösen Strukturen. Was bedeutet das?
Da ist die Art, wie Menschen abhängig gemacht und ausgebeutet werden. Dazu gehört auch, wie die Arbeiter untergebracht sind. Häufig ist es ja so, dass Arbeitsmigranten ganz schlechte Karten haben, wenn sie eine bezahlbare und menschenwürdige Wohnung suchen. Sie sind also oft darauf angewiesen, was der Arbeitgeber ihnen anbieten. Und da stellen wir fest, dass die Verdienstausfälle, die die Betriebe haben, weil Leiharbeit nur noch zu geringen Teilen möglich ist, kompensiert werden, durch Mietwucher für zum Teil menschenunwürdige Unterkünfte. Auf diesem Gebiet hat sich leider wenig getan.

Pfarrer Peter Kossen ist Seelsorger in Pfarrgemeinde Seliger Niels Stensen in Lengerich und engagiert sich seit rund zehn Jahren für Menschen, die als Arbeitsmigranten nach Deutschland kommen. Foto: privat

Pfarrer Peter Kossen ist Seelsorger in Pfarrgemeinde Seliger Niels Stensen in Lengerich und engagiert sich seit rund zehn Jahren für Menschen, die als Arbeitsmigranten nach Deutschland kommen. Foto: privat

Woher beziehen Sie Ihre Informationen über den Zustand in den beschriebenen Branchen? 
Wir haben hier in Lengerich als Verein Aktion Würde und Gerechtigkeit eine Beratungsstelle, die auch überregional tätig ist. Und wir sind natürlich mit anderen Beratungsstellen vernetzt und auch mit den Ministerien. Wir haben persönlichen Kontakt zu den Menschen, die in den Fabriken arbeiten. Mein Bruder ist zum Beispiel Arzt in einer Region, in der die Fleischindustrie eine große Rolle spielt. Er hat auch viele Patienten aus diesen Fabriken und stellt fest, was das physisch und psychisch mit diesen Menschen macht. Wie sie verschleißen, wie sie vor der Zeit altern. Aus seiner Wahrnehmung hat sich da zum Beispiel nichts verändert.

Der Corona-Ausbruch bei Tönnies hat das Brennglas auf die Fleischindustrie gelegt. Wo muss noch etwas passieren?
Da gibt es viele Bereiche. In der Logistik zum Beispiel. Die LKW-Fahrer sind wochenlang auf den Straßen unterwegs, leben teilweise in ihren LKW. Sie werden häufig zu ähnlich miesen ausbeuterischen Konditionen beschäftigt. Auch der Paketdienst als Teil der Logistik. Beim Paketservice ist es in vielen Fällen so, dass die Menschen bei Subunternehmern angestellt sind zu ganz üblen Konditionen. Auch im Gastgewerbe, im Gemüseanbau, bei der Gebäudereinigung und auf dem Bau gibt es teilweise erbärmliche Arbeitsbedingungen.

Welche Schritte müssen jetzt folgen?
Die jetzt beschlossenen Verbesserungen müssen kontrolliert und auf andere Branchen ausgeweitet werden. Das wäre wichtig. Ich würde mir wünschen, dass der Staat den Mut hat, auch das zu regulieren. Auch die Frage der Integration ist wichtig. Die Bevölkerung geht immer noch davon aus, dass wir bei allem hier über Spargelstecher und Erdbeerpflücker sprechen, die fünf Monate hier sind und dann zufrieden wieder nach Hause abreisen. Wir sehen aber, dass immer häufiger Leute für kurz kommen, aber lange bleiben und zum Teil ihre Familien nachholen. Da stellt sich dann die Frage: Wie geschieht da Integration? Darauf müssen wir Antworten finden.

Interview: Jürgen Bröker

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