Durch mutiges Einschreiten verhinderte Dr. Paul Rosenbaum (li.), dass Ahlen 1945 in Schutt und Asche gelegt wurde. In der Stadt erinnert ein Gedenkstein an den mutigen Mann. Fotos: Stadt Ahlen
09.09.2020

Tollkühner Retter der Stadt Ahlen

Vor 75 Jahren bewahrte der Mediziner Paul Rosenbaum in einer tollkühnen Rettungsaktion die Stadt Ahlen vor der vollständigen Zerstörung. 

Im März 1945 kam der Krieg, der zuvor von Deutschland in die Welt getragen worden war, auch nach Westfalen. Während starke Kampfverbände der Alliierten rasch vordrangen, versank eine Stadt nach der anderen im Bombenhagel in Schutt und Asche. Am 30. März 1945, es war Karfreitag, stand die Spitze der 2. Panzerdivision der 9. US-Armee vor Ahlen im südlichen Münsterland bereit, die Stadt, die bei der Schließung des Ruhrkessels eine wichtige strategische Rolle spielte, mit 40 Geschützbatterien und Panzern sturmreif zu schießen.

Dabei hatte die Stadt, die aufgrund ihrer Zeche und ihrer Industrieanlagen als kriegswichtig galt, bereits eine Reihe von Luftangriffen mit 300 Toten erlebt, die allerdings das Zentrum weitgehend verschont hatten. Ahlen zählte damals rund 29000 Einwohner. Hinzu kamen Militärangehörige, zahllose Flüchtlinge und Ausgebombte, aber auch Fremdarbeiter und viele tausend Verletzte in den 13 Notlazaretten der Stadt. Die Gauleitung in Münster hatte die Verteidigung bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone befohlen. Das wäre einer völligen Zerstörung Ahlens gleichgekommen.

Mit weißer Fahne zu den Amerikanern

Angesichts der aussichtslosen Lage unternahm der damals 50-jährige Oberfeldarzt Dr. Paul Rosenbaum entgegen bestehender Befehle eine tollkühne Rettungsaktion. Rosenbaum, 1895 in Aachen geboren, war als hochdekorierter Offizier aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt, hatte Medizin studiert, geheiratet, um nach 1939 als Militärarzt in Frankreich und an der Ostfront zu dienen. Nach einer Verwundung hatte er im September 1942 schließlich die Leitung des Lazaretts in Ahlen übernommen.

Und nun fuhr er am 31. März, dem Tag vor Ostern, mit der weißen Fahne des Roten Kreuzes und in Wehrmachtsuniform den Amerikanern entgegen, die ihren Gefechtsstand in der Walstedder Mühle eingerichtet hatten. An das Gespräch, das er dort mit dem Abschnittskommandeur, Colonel Sidney Hinds, führte, hat er in seinen Tagebuchaufzeichnungen wie folgt erinnert. „Im Namen Gottes, der Barmherzigkeit und Menschlichkeit – verschonen Sie diese Stadt mit ihren vielen tausend Verwundeten und Einwohnern.“ Auch Hinds, ein bekennender Christ, hat diesen Satz in seinem Kriegstagebuch notiert, wobei er meinte: „Ein Nazi nimmt weder Gott noch das Wort Barmherzigkeit in den Mund.“ So bahnte sich Vertrauen an.

Eine Gedenktafel am heutigen St. Michael Gymnasium erinnert an Paul Rosenbaum. Foto: Stadt Ahlen

Eine Gedenktafel am heutigen St. Michael Gymnasium erinnert an Paul Rosenbaum. Foto: Stadt Ahlen

Die beiden Männer setzten die Verhandlungen um die Übergabe der Stadt anschließend im damaligen Realgymnasium, der heutigen Stadtbücherei, fort mit dem Ergebnis, dass der Lazarettstandort Ahlen zur ersten „offenen“ Stadt erklärt wurde. Darüber hinaus gelang es auch in langwierigen Telefongesprächen, den Militärkommandanten im benachbarten Beckum zur Aufgabe zu bewegen. Ein derartiges Verhalten galt als „Defätismus“ und „Vaterlandsverrat“, der von den „fliegenden Standgerichten“ der Wehrmacht sowie von SS- und Gestapo-Männern rücksichtslos mit dem Tod durch Erhängen oder Erschießen geahndet wurde. So haben noch in den letzten Tagen des „Tausendjährigen Reiches“ viele mutige Männer, die ihre Heimat vor Schlimmerem bewahren wollten, ihr Leben verloren.

Paul Rosenbaum blieb mit seiner Familie noch bis 1946 in Ahlen, hoch geehrt als Retter der Stadt und „Vater der Verwundeten“, die er so aufopferungsvoll gepflegt hatte. Dann kehrte er in seine rheinische Heimat zurück und ist in Kohlscheid, wo er eine eigene Praxis eröffnet hatte, 1954 im Alter von 59 Jahren gestorben.

Aus Feinden werden Freunde

Sein Tagebuch, das die dramatischen Monate zwischen März und September 1945 beschreibt, ist erst vor Kurzem nach einer langen Odyssee aus England zurückgekehrt und befindet sich heute im Kreisarchiv Warendorf. Hier heißt es: „Wenn ich in diesem Sommer durch die Straßen der Stadt ging, sah ich wohl die kleinen Narben, die Kriegs- und Nachkriegsgeschehen auch hier gerissen hat. Eine tödliche Wunde ist Ahlen aber nirgendwo gerissen worden… Die sausenden Seilscheiben der Zeche Westfalen, die wieder rauchenden Schlote, die steil im Weichbild der Stadt wolkenwärts ragen, die unzerstörten Kirchen und Häuser, der trauliche Lampen- und Lichterschein, der im Abenddunst golden aus Fenstern gleißt, das Rauschen der Bäume im Park, das Geflöt und Getön der Vögel beglückt mich, wenn ich daran denke, dass ich in bescheidenem Maße dazu beitragen konnte, Menschen, Siedlungen, Werke mit all ihrem Wert und ihrer Kultur zu erhalten.“

Sidney Hinds starb 1991 in seinem Wohnort San Antonio in Texas. Den beiden so ungleichen Männern, die einmal Feinde waren und Freunde wurden, hat die Stadt Ahlen 2013 ein würdiges Doppel-Denkmal dort gesetzt, wo einst die Übergabeverhandlungen stattfanden. Damals, 1945, hatte der Ahlener Bürgermeister im Rathaus eine Flasche Weißwein bereitlegen lassen, die der Amerikaner allerdings ausschlug. Als 1987 Hinds‘ frühere Division Ahlen im Rahmen eines Truppenmanövers besuchte, wurde dieses Angebot doch noch angenommen. 42 Jahre später.

Volker Jakob

Dieser Beitrag erschien zuerst in Heft 2/2020 des WESTFALENSPIEGEL.

Weitere Teile der Serie „Erinnerungsorte – Gegen das Vergessen“ finden Sie hier: „Erinnerungsorte – Gegen das Vergessen“

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