Die Macht der Erinnerung
Marius Hulpes Debütroman „Wilde grüne Stadt“ führt ins Soest der 1970er Jahre. Ein „westfälisches Sittenbild“ und ein großartiger Roman.
Zum Einstieg Rilke. Das Zitat, das Marius Hulpes Roman „Wilde grüne Stadt“ einleitet, kündigt ein zentrales Thema des Buchs an: die Macht der Erinnerung. Sie steckt tief in den Kleidern, ob man will oder nicht, und man wird sie sein Lebtag lang nicht los: „Und wenn man da aufwächst, so denkt man immerfort an die Vergangenheit. Wie alles wohl war, denkt man, und man wird nicht müde zu suchen“, heißt es bei Rilke.
Im Roman ist diese Reflexion auf die Stadt Soest bezogen. Sie wird zwar nicht direkt namentlich erwähnt, aber alles deutet auf sie hin, Straßenamen, Gasthäuser und nicht zuletzt das „Westfälische Abendmahl“, ein Glasfenster der Soester Kirche St. Maria zur Wiese, genannt Wiesenkirche: „Links und rechts die Jünger mit dem Bierkrug, davor auf dem Tisch der Schweinskopf und der Schinken, daneben die Schnapsgläser“ – eine speziell-westfälische Interpretation der biblischen Szene.
Raus aus der Enge der Stadt
Der Roman führt uns mitten ins gesellschaftliche Leben der Stadt in den 1970er Jahren. Und dort in die Kürschnerei der Familie Kemper. Es ist ausgemachte Sache, dass die Tochter des betagten Firmenchefs, die talentierte Clara, das florierende Geschäft bald übernimmt. Doch Clara leidet unter der Enge der Stadt und möchte sich lieber heute als morgen aus dem Staub machen. Gleichzeitig weiß sie aber auch, dass sie schicksalhaft an den Ort gebunden ist. Sie sagt: „Wen juckt schon, was ich will?“
Die impulsive und aufbegehrende Clara ist das Sorgenkind der Familie. Vor allem ihr turbulentes Liebesleben ist ein stadtbekannter Skandal. Als sie früh unehelich schwanger wird, kommen gleich mehrere Väter in Frage. Ihrer Neugeborenen gibt sie einen hebräischen Vornamen und provoziert damit erneut: „Sheva soll es heißen“, ächzt Clara. Kurz fällt der Blick der Hebamme in sich zusammen, dann scheint sie sich zwanghaft zu berappeln, lächelt und fragt nochmal. „Sie sind sich da ganz sicher?“ „Wieso sollte ich mir das nicht sein?“ „Naja, ich meine nur… man weiß doch nie, was noch kommt.“ Vor allem kommt gleich keine Luft mehr in mein Kleinhirn, denkt Clara. Im Auto hat sie noch nichts gespürt, aber das nennt man dann jetzt wohl Wehen. „Was bitte soll denn kommen?“
Clara, die eben noch meinte, so etwas wie innere Ruhe zu verspüren, bemerkt jetzt, wie es ihr im ganzen Körper kribbelt, sogar einen leichten Hunger bekommt sie, dazu Lust auf einen Kräuterschnaps, und wenn die Frau so weitermacht, kann sie für nichts garantieren. „Ach, Sie wissen schon. Wenn’s mal wieder ’nen Führer gibt, kann ja immer mal passieren. Dann aber Prostmahlzeit mit so einem Namen.“ „Aber…“ Clara zögert, ihr Unterleib gerät zunehmend in Wallung… denk jetzt genau nach, sagt sie sich, sonst bist du nachher wieder böse auf dich selbst… „aber ich gebe meinem Kind den Namen ja in der Zuversicht, dass so einer nicht mehr kommt. Verstehen Sie?“ „Und da sind Sie sich also so sicher.“ „Naja.“ „Drauf wetten würd‘ ich jedenfalls nicht.“
Kleinbürgerliche Ressentiments
Ähnlich reserviert begegnet man ihr später auf dem Standesamt. Als der Beamte den Vornamen des Kindes hört, fragt er irritiert und aggressiv nach: „Sheva“, sagt Clara, „Sheva Kemper.“ Kurz scheint er die Luft anzuhalten, jedenfalls macht er eine Schluckbewegung und regt sich danach gar nicht mehr, außer dass er sie geradewegs ansieht. Und eine verstörende Unmenge an Kälte unter seine folgende Frage legt. „Das wollen sie dem Kind wirklich antun?“
Damit ist das mentale Klima der Stadt bereits halbwegs umrissen. Immer wieder wird der Leser Zeuge kleinbürgerlichen Ressentiments, die sich gegen alles richten, was nicht traditionellen Gepflogenheiten entspricht. Um ihre gesellschaftliche Stellung zumindest halbwegs zu legitimieren, präsentiert Clara ihre rumänische Urlaubsbekanntschaft Cosmin als Vater ihres ersten Kindes und versucht, ihm eine Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Doch die politischen Verhältnisse erweisen sich als schwierig. Erst unzählige Bittgesuche, unter anderem bei Franz Müntefering (!) und sogar beim US-Senator Edward M. Kennedy (!), Bruder von John F. Kennedy, bringen den erhofften Erfolg. Doch die Ehe scheitert. Clara gibt ihrem früheren Geliebten den Laufpass.
Wie ablehnend man Fremden begegnet, muss auch Reza erfahren. Der angehende Ingenieur und Agrarmaschinenbauer, Sohn eines begüterten iranischen Gutsherren, wurde vom persischen Schah in Deutschland eingeschleust, um dort Agrartechnik auszuspionieren. In Soest lernt der gut aussehende, intelligente und schwärmerische Reza Clara kennen. Auch sie erliegt seinem Charme. Die „Gelegenheitsbeziehung“ hält sie auch dann noch aufrecht, als Reza in Berlin Politikwissenschaft studiert und später, als er im Badischen bei einem Familienkonzern unterkommt.
Autobiografische Lesart
Aus Claras Liaison mit Reza geht Niklas hervor, die heimliche Hauptfigur des Romans. Mit dem Autor des Romans teilt er das Geburtsjahr 1982, was eine autobiografische Lesart nahelegt. Im Gegensatz zu seiner älteren, impulsiven Schwester Sheva (die beispielsweise auf einer Beerdigung einen Einheimischen offen als „Nazi“ tituliert) ist Niklas ein zurückhaltendes, verspieltes Kind. Der fantasie- und sprachbegabte Junge ist zudem ein guter Schüler. Er fühlt sich als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft, wird aber aufgrund seines fremdländischen Aussehens von anderen begafft und als „Kanake“ und „Mullah“ gehänselt – und das, obwohl er, wie er selbst beteuert, ein katholischer Deutscher und Enkel des betuchten Unternehmers Willi Kemper ist.
Charakteristisch hierfür ist ein Gespräch des Achtjährigen mit seinem Großonkel:
„Na, du kleiner Ayatollah!“ „Hallo Onkel Calli!… Was ist ein Eier toller, Calli?“ „Oh, den möchtest du nicht kennenlernen, haha, nein.“ „Warum denn nicht?“ „Weil das ein schrecklicher Mann ist.“ „Und warum nennst du mich dann so?“ „Haha, haha… Ja, das ist nur ein Spaß, weißt du. Denn wenn du älter wirst und größer, musst du dich auch immer ordentlich rasieren, damit du nicht so aussiehst wie der.“ „Woran liegt das denn?“ „Weil dein Papi auch so einer ist!“ „Was für einer ist der denn?“ „Naja, ein Kamelreiter eben. Haha, haha.“
Rückzug in Traum- und Fantasiewelt
Niklas versteht nicht, wieso seine Umwelt so abweisend auf ihn reagiert. Er zieht sich in die Traum- und Fantasiewelt seines Zimmers zurück. Viele Phänomene kann er erst später, als Student, einordnen. Er gelangt dabei zu der Einsicht, dass der Rassismus nicht nur von den Nazis praktiziert wird, sondern „von Leuten wie uns… , die es nicht bemerken“.
„Wilde grüne Stadt“ ist ein grandioser Roman. Schon deshalb, weil er im Vergleich mit anderen westfälischen „Sittenbildern“ (etwa Otto Jägersbergs „Weihrauch und Pumpernickel“, 1964, oder Norbert Johannimlohs „Appelbaumchaussee“, 1980) die Perspektive weitet und das Thema Migration und Diskriminierung adäquat behandelt. Zudem bietet er großen Lesegenuss. Die eingebauten zeitlichen Sprünge – die Handlung umfasst sieben Jahrzehnte, es kommt, bei allen Protagonisten zu zeitlichen Rückblicken – macht die Lektüre nicht immer leicht, entspricht aber der Auffassung, dass das Leben auch nicht immer geradlinig verläuft, ganz wie es im Untertitel des Romans „Im Labyrinth des entwurzelten Lebens“ anklingt.
Ein Letztes zum autobiografischen Hintergrund des Romans: Er führt uns noch einmal zum neunjährigen Niklas. Dieser verspürt schon früh den Wunsch, später einmal Bücher schreiben zu wollen, weil ihm auffällt, dass seine Mutter und seine Oma nach ihrer Lektüre immer ungewöhnlich freundlich zu ihm sind. Bücher scheint ein besonderer Zauber innezuwohnen, mutmaßt der Junge. Einen solchen zauberhaften Roman hat Marius Hulpe nun vorgelegt. Walter Gödden
„Wilde grüne Stadt“ ist im Kölner DuMont Buchverlag erschienen. 400 Seiten. 24 Euro. ISBN 978-3832183677
Dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 1/2020 des WESTFALENSPIEGEL.
Mehr Buchtipps finden Sie hier.