Herbert Beckmann: Der Tote im amerikanischen Sektor, Aufbau Verlag, 400 Seiten, 12 Euro, Foto vom Cover: Aufbau Verlag
08.12.2023

Jo Sturm und der Rock’n’Roll

Buchtipp: Herbert Beckmann taucht in seinem neuen Krimi ins Berlin der späten 1950er ein.

Herbert Beckmann ist eine Entdeckung für die westfälische Literatur- und Krimiszene. Der 1960 in Ahaus geborene Autor lebt seit Jahren in Berlin und hat sein Insiderwissen über die Geschichte der Stadt in zahlreiche Buchprojekte einfließen lassen. Neben seinen psychologischen und journalistischen Fach- und Sachbüchern widmet sich Beckmann zunehmend dem literarischen Schreiben. Es entstanden Hörspiele, Radiogeschichten, Romane und Erzählungen. Zuletzt lag sein Fokus auf dem zeithistorischen Krimi. Mit der Person des Jo Sturm hat Beckmann eine hochinteressante Ermittlerfigur erschaffen, die den Leser in das Berlin der späten 1950er Jahre eintauchen lässt.

Sturm ist ein sympathischer, cooler Zeitgenosse. Man sieht ihn förmlich vor sich, wie er mit seinem DKW-Motorrad durch die brodelnde Metropole knattert, in seinem Polizeibüro unerlaubt Jazz hört und sich abends in amerikanischen Musiklokalen die Zeit vertreibt. Sturm entspricht so gar nicht dem Bild jener Ermittler, die Beckmann in seinem neuen zweiten Jo-Sturm-Roman „Der Tote im amerikanischen Sektor“ gleich reihenweise auftreten lässt – finstere Egomanen, denen es vor allem darum geht, die starren Hierarchien im Dienstbetrieb aufrechtzuerhalten, um selbst keine Machtbefugnisse einzubüßen. Eine Welt, mit der Jo Sturm nichts anfangen kann. Er ermittelt am liebsten auf eigene Faust, was mitunter zu haarsträubenden Alleingängen führt. Kein Wunder, dass man ihn von der Mordkommission in die ungeliebte Vermisstenabteilung zwangsversetzt hat.

Bill-Haley-Konzerts im Mittelpunkt eines Verbrechens

Doch dann ereignet sich ein Fall, bei dem Privates und Politisches nicht voneinander zu trennen sind und bei dem man Sturm notgedrungen wieder in die Kommission für Tötungsdelikte aufnehmen muss: Die Freundin der Tochter seiner Zimmerwirtin ist nach dem Besuch eines Bill-Haley-Konzerts verschwunden, ihre Mutter wird von Sturm ermordet aufgefunden.

Schriftsteller und Psychologe: Der Wahl-Berliner Herbert Beckmann wurde 1960 in Ahaus geboren. Foto: Privat

Schriftsteller und Psychologe: Der Wahl-Berliner Herbert Beckmann wurde 1960 in Ahaus geboren. Foto: Privat

Das Rock’n’Roll Konzert im Berliner Sportpalast, das 1958 in einer Saalschlacht endete, steht auch im Mittelpunkt eines weiteren Verbrechens. Der beliebte RIAS-Schlager-Conférencier Wulf Herzke, der den entnervten Rock-Star nach dem Spektakel interviewt hat, fällt ebenfalls einem Mord zum Opfer – ein Mann, den die Ostseite als Spion in den Westen eingeschleust hatte, der dann aber nicht wie gewünscht „ablieferte“. Sollte mit seiner brutalen Ermordung ein besonders grausames Exempel statuiert werden, um zu zeigen, mit welchen Repressalien Überläufer zu rechnen haben?

Man gleitet immer tiefer hinein in einen Sumpf aus skrupellosen Geheimdienstmachenschaften, zu denen sich noch ein dritter Mordfall hinzugesellt, der, wie Sturm herausfindet, im Zusammenhang mit den beiden anderen Verbrechen steht. Zu guter Letzt muss er sogar selbst sein Leben aufs Spiel setzen.

Ost-West-Konflikt

Der Showdown ordnet sich ein in das genau recherchierte Psychogramm einer Zeit, in der der Kalte Krieg serienweise Verbrechen produzierte und skrupellose Mörder und enthemmte Gewalttäter offensichtlich leichtes Spiel hatten. Nicht nur hier greift der Plot von „Der Tote im amerikanischen Sektor“ historisch verbürgte Sachverhalte auf. Ende 1958 versuchten die Sowjets unter Nikita Sergejewitsch Chruschtschow auch den Westteil der Stadt in ihre Gewalt zu bringen, wozu erste Vorbereitungen bereits getroffen waren. Nachdem westliche Geheimdienste das Vorhaben enttarnt hatten, hielt Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister der geteilten Stadt, eine überraschend anberaumte Rundfunkansprache zum Ost-West-Konflikt und zur Stellung Westberlins.


Lippe wird 900

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Im Abspann seines Thrillers erläutert Herbert Beckmann: „Willy Brandts ‚zu früher‘ Zeitpunkt seiner Rundfunkerklärung vom 27. November 1958 (…) ist heute nur noch als Fußnote in einer Jahrzehnte später vom Berliner Senat herausgegebenen Berlin-Chronik der Jahre 1957–1958 verbürgt. Dass die Fachwelt sich über dieses erstaunliche Detail des Kalten Kriegs in so brisanter Zeit bis heute nicht wundert – wundert mich. Zu den gleichfalls nicht von mir erfundenen Hintergründen dieses Kriminalromans zählen (…) der staatlich organisierte Kindesraub und die erzwungene Adoption in der DDR. Es gab sie wirklich, doch diese Tatsache wurde bis heute nicht aufgearbeitet, nur spärlich dokumentiert und wissenschaftlich bisher kaum untersucht.“

Thriller mit viel Zeitkolorit

Solche realen Bezüge zeigen, dass Beckmanns Roman mehr ist als ein spannend erzählter Thriller. Das Zeitkolorit ist so dicht gewebt, dass man glaubt, unmittelbar in die historischen Kulissen eintreten zu können. Der Roman weist noch eine weitere Dimension auf. Er bietet, eingeschmuggelt durchs Sturms Jazz-Begeisterung, das Abbild eines sich damals rasant entwickelnden neuen Lifestyles, zu dem die Musik einen entscheidenden Anteil beitrug – hier der schillernde amerikanische Sektor der ‚freien Welt‘ mit Straßenkreuzern und Elvis Presleys Hüftschwung, dort die graue Ostzone, die jedes Freiheitsgebaren als westliche Dekadenz brandmarkte. Das aufgeputschte Musikleben der Stadt spielt unmittelbar in die Hintergründe der Mordfälle hinein. Freddy Quinn, Bully Buhlan und beispielsweise das Orchester Kurt Edelhagen mit dem Schlagerclown Bill Ramsey haben kleine Gastauftritte.

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„Der Tote im amerikanischen Sektor“ ist ein vielschichtiges Werk mit Potenzial für weitere Folgen. Fortsetzung folgt also? Hoffentlich! Der Leser will ja schließlich wissen, ob Jo Strom das Angebot, zum Chef der Vermisstenabteilung aufzusteigen, annimmt. Für die Mordkommission ist er hingegen ein Außenseiter und Fremdkörper – Strom ist einfach nicht stromlinienförmig genug.

Walter Gödden

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