Impfungen sind eine Erfolgsgeschichte, waren aber immer wieder auch umstritten. Foto: Tim Reckmann, pixelio.de
29.07.2021

„Man muss auch streiten können“

Impfpflicht ja oder nein? Angesichts steigender Inzidenzzahlen und Prognosen zu einer möglichen vierten Pandemiewelle wird über diese Frage heftig diskutiert. Der Historiker Prof. Dr. Malte Thießen, Leiter des LWL-Instituts für Regionalgeschichte in Münster, forscht zur Geschichte des Impfens. Er hat herausgefunden: Impfen ist schon seit Jahrhunderten eine politische Frage.

Herr Thießen, Corona-Impflicht ja oder nein – was lehrt uns der Blick in die Geschichte?
Impfen ist eine Erfolgsgeschichte. Die Pocken oder auch Polio konnten so praktisch ausgerottet werden. Aus der historischen Perspektive kann man aber sicher sagen, dass eine Impfpflicht nur Nachteile mit sich gebracht hat. Dazu zählt, dass sie Impfskeptiker mobilisiert. Überzeugte Gegner werden sich auch angesichts von Strafandrohungen nicht impfen lassen, sondern inszenieren sich dann als Märtyrer. Darüber hinaus ist es eine unglaubliche Ressourcenverschwendung, eine Impfpflicht durchzusetzen. Schon im 19. Jahrhundert haben sich Polizisten darüber beschwert, dass sie Impfverweigerer aufsuchen müssen, statt sich mit anderen Aufgaben beschäftigen zu können.

Prof. Dr. Malte Thießen. Foto: LWL/Kathrin Nolte

Prof. Dr. Malte Thießen. Foto: LWL/Kathrin Nolte

Um eine Herdenimmunität zu erreichen, ist es aber wichtig, dass sich möglichst viele Menschen impfen lassen. Wie kann das erreicht werden?
Ein Großteil der Menschen, die nicht geimpft sind, ist eher zögerlich oder besorgt. Sie können mit transparenten Darstellungen von Nutzen und Risiken des Impfens überzeugt werden. Das hat man in den 1960er Jahren gesehen, als konsequent und offen über Risiken und Nebenwirkungen der Impfung gegen Kinderlähmung aufgeklärt wurde. Eine transparente Aufklärung, Überzeugungsarbeit und niedrigschwellige Impfangebote haben in der Geschichte stets zu größeren Erfolgen geführt. Wenn Risiken verschwiegen werden, spielt das hingegen Impfgegnern in die Karten.

Gibt es Impfgegner eigentlich erst seit Corona?
Impfgegner gibt es so lange wie das Impfen selbst. Die erste moderne Impfung war vor rund 200 Jahren die Pocken-Schutzimpfung. Und diese war auch damals umstritten. Man schätzt, dass Anfang des 20. Jahrhunderts rund 300.000 Impfgegner in Vereinen oder anderen Initiativen organisiert waren und gegen die Pocken-Impfpflicht protestiert habe. Ihre Thesen und Warnungen haben sie zum Beispiel auf Flugblättern verbreitet. Auch im Reichstag wurde über die Impfpflicht debattiert.

Warum ist Impfen solch ein „heißes Eisen“?
Das hat damit zu tun, dass Impfen erklärungsbedürftig ist. Es geht, vereinfacht ausgedrückt, darum, dass etwas gespritzt wird, das potenziell krank macht, um vor einer Krankheit zu schützen. Das weckt Zweifel und Sorgen. Mit dem Impfen verbinden sich aber auch andere Debatten, wie die Vorstellung, dass Pharmaunternehmen den Volkskörper schwächen wollten, so wie es im 19. Jahrhundert gesagt wurde. 

Damit ist das Impfen eine politische Frage.
Am Beispiel der Impfung werden die Grundrechte des Bürgers verhandelt und es wird sehr emotional diskutiert. Schließlich geht es um grundsätzliche Fragen, wie: wer darf über den Körper bestimmen? Das Spannungsverhältnis vom Einzelnen und der Allgemeinheit wird dabei verhandelt, ja ganze Weltanschauungen. Das ist in einer Demokratie aber gut so. Man muss auch streiten können, gerade über diese Dinge. 

Interview: Annette Kiehl, wsp

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