Den Insekten in Westfalen geht es schlecht. Foto: pixabay
21.05.2021

Das Summen wird leiser

Immer mehr Insektenarten sind bedroht. Auch in Westfalen verschwinden Schmetterling, Biene und Co. 

Auch wenn nicht alles glatt läuft, pfeift Werner Schulze ein Lied vor sich hin. Die weiße Gardine hängt schon zwischen den Bäumen im Wald bei Hardehausen im Diemeltal, weiße Tücher liegen auf dem Boden und die Glühlampe steht auch schon bereit, nur leuchten will sie nicht. Der Generator springt nicht an. Immer wieder läuft der Biologe in der Dämmerung zwischen Lampe, Generator und seinem Auto hin und her. Er ist auf Nachtfang. Mit der Lampe will er hier Insekten anlocken, um zu dokumentieren, was in der Region so alles fliegt und krabbelt. Solche Untersuchungen sollen Auskunft geben über den Zustand der Insektenfauna.

Mehrere Male im Jahr fährt der pensionierte Lehrer und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft westfälischer Entomologen von Bielefeld hier heraus. Als der Generator endlich läuft, ist es dunkel geworden. Das Licht verfehlt seine Wirkung nicht. Es schwirrt und summt rund um die Lampe und um Schulzes Kopf sowie auf der weißen Gardine nur so vor verschiedenen Spanner-, Zünsler und Eulenfalterarten. Kleine Lauf- und Schwimmkäfer, Wasserwanzen und Köcherfliegen rennen über die Tücher am Boden, Birkenspanner, oder auch das Ausrufungszeichen, ein auf den ersten Blick unscheinbarer brauner Nachfalter, fliegen zum Licht. 

Masse und Vielfalt der Insekten hat stark abgenommen

„Wie die Ausbeute ausfällt, hängt von vielen Faktoren ab. Zum Beispiel der Temperatur, der Bewölkung, vom Mondschein“, sagt Schulze. Manchmal entdeckt er nur etwas mehr als ein Dutzend Arten, manchmal sind es über hundert. „Insgesamt hat aber sowohl die Vielfalt der Arten, als auch die Masse der Insekten in der Region in den vergangenen Jahren stark abgenommen“, erklärt der Mann mit dem weißen Bart weiter. Er kann für Westfalen bestätigen, was die Insektenforscher aus Krefeld in ihrer Langzeitstudie beobachtet haben: einen massiven Verlust der Insekten.

uf Insekten-Nachtfang mit Werner Schulze. Foto: Jürgen Bröker/wsp

Auf Insekten-Nachtfang mit Werner Schulze. Foto: Jürgen Bröker/wsp

Die Gründe dafür sind vielfältig. So beansprucht der Mensch zu viel Raum für sich. Täglich werden in Deutschland rund 56 Hektar als Siedlungs- und Verkehrsflächen neu ausgewiesen, so das Bundesumweltministerium. Jeden Tag wird also eine Fläche von fast 80 Fußballfeldern für den Bau von Wohnungen, Industriehallen oder Straßen freigeben. Damit vernichtet der Mensch jeden Tag wertvolle Lebensräume für die Sechsbeiner.

Und auch die Art, wie wir das Land bewirtschaften, hat großen Einfluss auf den Lebensraum der Insekten. „Die bewirtschafteten Felder werden größer. Die Äcker sind weniger kleinteilig, dadurch gehen Randstrukturen verloren. Das führt zum Rückgang von Insektenlebensräumen“, erklärt Dr. Mathias Lohr, Experte für Biodiversität mitteleuropäischer Kultur- und Naturlandschaften an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe. Hinzu kommt der Einsatz von Chemikalien auf den Feldern, die die Nutzpflanzen vor Schädlingen und Unkraut schützen sollen, aber gleichzeitig Insekten töten, ihre Nahrungsgrundlage vernichten oder sie vertreiben. 

Biodiversität schädigenden Landbewirtschaftung

Häufig wird für diese Entwicklung allein den Landwirten der „Schwarze Peter“ zugeschoben. „Das greift aber zu kurz. Politik und Verbraucher, also wir alle, tragen dafür ebenso die Verantwortung“, sagt Lohr. Schließlich würden die Landwirte unter den Bedingungen wirtschaften, die ihnen die Politik und die Gesellschaft vorgeben. „Sie erzielen für viele Produkte nicht die Preise, die sie für eine umweltgerechte Produktion verdienen. Sie sollen und müssen möglichst effektiv und kostengünstig produzieren, um selbst leben zu können. Das führt zu einer Biodiversität schädigenden Landbewirtschaftung“, erklärt Lohr weiter. 

Die Dänische Eintagsfliege ist das Insekt des Jahres 2021. Foto: Jürgen Bröker/wsp

Die Dänische Eintagsfliege ist das Insekt des Jahres 2021. Foto: Jürgen Bröker/wsp

Und die lässt sich beziffern. Laut Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW sind von den beispielsweise rund 1700 Schmetterlingsarten im Land inzwischen etwa 55 Prozent auf der Roten Liste als gefährdet eingestuft. Von den 713 Wildbienen- und Wespenarten gelten 52 Prozent als gefährdet, bei den 63 Ameisenarten sind es 51 Prozent, bei den Heuschrecken- und Libellenarten fast jede zweite. „Im Kreis Höxter haben wir das Vorkommen von Tagfaltern untersucht. Es ist erschreckend, wie viele Arten vor gerade 100 Jahren noch sehr häufig waren und jetzt überhaupt nicht mehr vorkommen“, sagt Lohr.

Weitreichende Folgen für Ökosysteme

Dabei sind Insekten nicht nur die mit Abstand artenreichste Gruppe im Tierreich – mehr als zwei Drittel der bekannten Tierarten gehören zu den Insekten – sie sind auch eine wichtige Schlüsselgruppe der biologischen Vielfalt. Zahlreiche Arten helfen beim Bestäuben der Blütenpflanzen, darunter auch vieler Nutzpflanzen. Für viele Tierarten bilden die Sechsbeiner zudem die Nahrungsgrundlage. Daher hat der Verlust der Insekten weitreichende Folgen für Ökosysteme insgesamt.

Das Thema ist in der Bevölkerung angekommen. Mehr als 72.000 Menschen haben bei der Volksinitiative Artenvielfalt NRW bereits unterschrieben. Und auch die Politik handelt. So hat das Bundeskabinett ein neues Insektenschutzgesetz auf den Weg gebracht. Es sieht unter anderem vor, dass Biozide, Herbizide sowie bestäuberschädliche Insektizide in Naturschutzgebieten, Nationalparken, nationalen Naturmonumenten, Naturdenkmälern und Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung sowie in gesetzlich geschützten Biotopen verboten werden. Ein erster Schritt, sagen Naturschützer. Viele Landwirte dagegen fürchten starke Einschränkungen und Ertragseinbußen.

Patrick Urban (l.) und Werner Schulze bei der Suche nach Dungkäfern. Foto: Jürgen Bröker/wsp

Patrick Urban (l.) und Werner Schulze bei der Suche nach Dungkäfern. Foto: Jürgen Bröker/wsp

Schulze hält solche Verbote für unausweichlich, wenn man den Insekten und damit dem gesamten Naturhaushalt helfen will. Er weiß, wie viele Insekten auf extensiv bewirtschafteten Flächen leben, die frei von Pestiziden und Kunstdünger sind. Am Nachmittag war er auf einer Wiese von Hof Ramsbrock vor den Toren Bielefelds unterwegs, gemeinsam mit Patrick Urban, Biologe an der Universität Bielefeld. 

Wichtige Dungkäfer

Urban hat ein auf den ersten Blick seltsames Faible für eine etwas abstoßende Tiergruppe: Kot- und Dungkäfer. Er sucht in den Hinterlassenschaften des dort weidenden Roten Höhenviehs nach entsprechenden Exemplaren. Ausgestattet mit einer Waschschüssel, Einweghandschuhen, Pinzette und einer Wasserflasche greift er beherzt in frische und weniger frische Fladen. „Dungkäfer sind ökologisch extrem wichtig“, sagt Urban. Die verschiedenen Krabbler dieser Gattung hielten alles im Kreislauf. „Sie tragen Samen und natürlichen Dünger tief in den Boden ein, können Krankheitserreger abbauen und verhindern die Vermehrung von Parasiten im Dung. Ohne diese Käfer würde sich die Wiese im Laufe der Zeit selbst vergiften und vor allem wären die Nährstoffe ohne die Aufbereitung durch Dungkäfer für Pflanzen nicht nutzbar“, erklärt der 33-Jährige. In einem einzigen Kuhfladen findet der Experte bis zu 20 verschiedene Arten: Tunnelgräber, Tiefenbohrer und Räuber mit lateinischen Namen wie Aphodius fimetarius, die für den Laien aber ohnehin nahezu alle gleich aussehen.

Beim Streifzug über die Wiese springen Grashüpfer auf, Libellen und Falter flattern durch die Luft, verschiedene Bienen fliegen zu den Blüten wilder Kräuter. Hier ist die Insektenwelt noch weitestgehend intakt. Von solchen Flächen gibt es aber zu wenige im Land. Das Diemeltal, wo die westfälischen Insektenkundler oft Untersuchungen durchführen, zählt zu den insektenreichsten Landstrichen Nordrhein-Westfalens. Oder auch die Senne zwischen Bielefeld und Paderborn.

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Doch auch hier lassen sich Veränderungen feststellen. „Wir verlieren nicht nur Arten, es kommen auch Einwanderer nach Westfalen“, sagt Schulze. Diese seien in aller Regel wärmeliebend. „Wegen der steigenden Durchschnittstemperaturen fühlen sie sich jetzt auch bei uns wohl“, sagt er. Ungewöhnliche Phänomene wie zusätzliche Faltergenerationen oder gar das Überwintern eines Wespenvolkes in Westfalen unterstreichen diese Entwicklung. 

Großer Puppenräuber ist verschwunden

Dafür gibt es aber auch Insekten, die seit Jahrzehnten nicht mehr in Westfalen gesehen worden sind. Für den Großen Puppenräuber gilt das zum Beispiel seit fast 80 Jahren. Dabei könnte er bei einem anderen Problem helfen. Denn seit einigen Jahren tritt der Eichenprozessionsspinner in großer Population bei uns auf. „Der Puppenräuber würde sich über die Raupen des Eichenprozessionsspinners hermachen und so eventuell zu einer Regulierung der Bestände seinen Teil beitragen“, erklärt Schulze.  

Um mehr über den Verlust der Insekten zu erfahren, sind Langzeitstudien extrem wichtig. Zum einen, weil Insekten in einem Jahr unter günstigen Bedingungen in Massen vorkommen können. Und ein Jahr später, weil die Bedingungen ungünstig sind, kaum noch auftauchen. Zum anderen, weil viele Arten einen ungewöhnlichen Lebenszyklus haben. „Manche Insekten verbringen oft mehrere Jahre als Larve. Erst danach werden sie als eigentlicher Falter oder Käfer sichtbar“, erklärt Schulze. Wenn man in einem Jahr also kein Exemplar von ihnen entdecken könne, müsse das noch nicht bedeuten, dass sie auch für immer verschwunden sind. Es wird aber immer wahrscheinlicher. 

Jürgen Bröker

Eine Bildergalerie zum Thema Insekten finden Sie hier: Auf Insektenfang 

Der Artikel stammt aus Heft 2/2021 des WESTFALENSPIEGEL. Lernen Sie uns kennen: Gerne senden wir Ihnen im Rahmen unseres Probeabos die nächsten beiden Ausgaben kostenlos zu. Hier geht’s zum Probeabo.

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