Seit mehr als 100 Jahren hat der Mensch in der Naturwaldzelle „Teppes Viertel“ in Münster nicht mehr eingegriffen. Foto: Jürgen Bröker
17.06.2021

Der Natur ihren Lauf lassen

Ein Besuch in „Teppes Viertel“ in Münster, eines von 75 unberührten Waldgebieten in NRW – was macht der Wald, wenn er einfach wachsen darf?

Ein wenig Ehrfurcht kommt beim Besuch in „Teppes Viertel“ schon auf. Hier im Wolbecker Tiergarten südöstlich von Münster stehen einige Baumriesen schon seit mehr als 300 Jahren fest verwurzelt in der Erde. Das sechs Hektar große Areal ist eine von insgesamt 75 Naturwaldzellen in Nordrhein-Westfalen.

Die Idee zu diesen Naturwaldzellen stammt schon aus den 1930er Jahren. Doch erst rund 40 Jahre später wurde das Vorhaben, die wenigen noch vorhandenen Relikte naturnaher Altwälder aus der Bewirtschaftung herauszunehmen, im Rahmen des Europäischen Naturschutzjahr 1970 aufgegriffen und umgesetzt. Die Waldflächen sind seither sich selbst überlassen, um eine möglichst natürliche Walddynamik zu ermöglichen. „Das Besondere an diesem Waldstück bei Münster ist, dass das Areal sogar schon seit mehr als 100 Jahren nicht mehr bewirtschaftet wird“, sagt Michael Elmer aus dem Team Waldnaturschutz bei Wald und Holz NRW. Damit gilt diese Zelle als die älteste in NRW.

Überproportional viele seltene und gefährdete Arten

Die Bäume dürfen hier krumm und schief wachsen, totes Holz bleibt stehen oder liegen und bietet vielen Arten Unterschlupf. „Vor fünf Jahren konnten bei Untersuchungen auf der Fläche sieben besondere Käferarten, so genannte Urwaldreliktarten, nachgewiesen werden“, sagt Elmer. Auch seltene Flechten- und Vogelarten wie der Mittelspecht fühlen sich in Teppes Viertel wohl. Eine Beobachtung, die auch für andere Naturwaldzellen gilt. Denn frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass es in naturbelassenen Wäldern nicht nur überproportional viele seltene und gefährdete Arten gibt, sondern auch zahlreiche Neu- und Wiederfunde verschollener Arten.

Michael Elmer aus dem Team Waldnaturschutz bei Wald und Holz NRW  Foto: Jürgen Bröker

Michael Elmer aus dem Team Waldnaturschutz bei Wald und Holz NRW Foto: Jürgen Bröker

Doch auch die Bäume in den Natuwaldzellen sind nicht vor Klimastress geschützt. So zeigten etwa die Buchen in den Naturwäldern 2019 und 2020 eine eingeschränkte Vitalität. „Die Bäume rollen ihre Blätter als Verdunstungs-Schutz ein oder sie verlieren sie ganz. Letzteres war im Juli und August 2019 zahlreich zu beobachten“, so Elmer.

Nicht einmal fünf Prozent der Waldflächen in NRW sind unbewirtschaftet, deshalb sind die Erkenntnisse aus den Naturwaldzellen so wichtig. Erste Beobachtungen im Wolbecker Tiergarten zeigen: Die einst vom Menschen eingebrachten Eichen sind auf dem Rückzug. Dafür erobern sich die Buchen den Wald. Vor allem dort, wo das Wild an die frischen Triebe kommt, bleiben nur die Buchen übrig. In einem abgezäunten Testbereich, der das Wild draußen hält, ist die Vielfalt größer.

Dass sich Teppes Viertel zu einer Buchenmonokultur entwickelt, ist nicht unbedingt gewünscht. Zumal gerade die Eichen und ihr Totholz für viele Arten überlebenswichtig ist. „Aber in solchen Projekten muss man auch den Mut haben, der Natur ihren Lauf zu lassen“, sagt Elmer.

Jürgen Bröker

Dieser Beitrag erschien zuerst in Heft 5/2020 des WESTFALENSPIEGEL.

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